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»Ja schon, aber unsere Gefühle sind schneller als unsere Gedanken. Wir sehen einen Mann, der nichts tut, um seine Frau zu retten, und empfinden Verachtung. Die nüchterne, objektive Reflexion kommt erst später, und trotz der neuen Informationen suchen wir nach Argumenten für das, was wir spontan gefühlt haben. Das ist zwar die unreflektierte Verachtung der Dummen, ­Mikael, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die meisten Leute genau das empfinden.«

»Und warum?«

Sie antwortete nicht.

Er drehte sich zu ihr um. Suchte ihren Blick.

»Aha«, sagte er. »Weil du dasselbe empfindest?«

Mikael sah, wie die Flügel von Isabelle Skøyens beeindruckender Nase sich weiteten, als sie tief Luft holte. »Du stehst für so vieles«, sagte sie. »Hast so viele Eigenschaften, dank derer du da bist, wo du jetzt bist.«

»Und?«

»Eine davon ist sicher deine Fähigkeit, in Deckung zu gehen und andere für dich kämpfen zu lassen, wenn Feigheit sich lohnt. Der Punkt ist nur, dass du dieses Mal vergessen hast, dass du Publikum hattest. Und nicht irgendein Publikum, sondern das denkbar ungünstigste.«

Mikael Bellman nickte. Journalisten aus dem In- und Ausland. Isabelle und er hatten wirklich ein schweres Stück Arbeit vor sich. Er nahm das große ostdeutsche Fernglas, das auf ihrer Fensterbank stand. Bestimmt das Geschenk eines männlichen Bewunderers. Richtete es auf den Fjord. Irgendwas dort draußen hatte seine Aufmerksamkeit geweckt.

»Was glaubst du, welcher Ausgang wäre strategisch der beste für uns?«, fragte er.

»Wie bitte?«, fragte Isabelle in der vornehmen Art des Osloer Westens, die sie sich angeeignet hatte, ohne dass das bei ihr aufgesetzt wirkte, obwohl sie auf dem Land groß geworden war. Mikael hatte ohne Erfolg dasselbe versucht. Die Spuren, die seine Kindheit und Jugend im Osten der Stadt hinterlassen hatten, waren zu tief.

»Dass Truls stirbt oder überlebt?« Das Fernglas fing etwas ein. Er stellte es scharf.

Es verging eine Sekunde, bis er ihr Lachen hörte.

»Und da haben wir deine andere Fähigkeit«, sagte sie. »Du kannst alle Gefühle ausblenden, wenn die Situation das erfordert. Du wirst Schaden nehmen, aber überleben.«

»Tot, oder? Dann müsste doch für alle klar sein, dass er die falsche und ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Außerdem kann er dann nicht interviewt werden, so dass die Sache auch keine lange Laufzeit haben wird.«

Er spürte ihre Hand an seiner Gürtelschnalle, während ihre Stimme ihm ins Ohr flüsterte: »Wünschst du dir wirklich, mit der nächsten SMS zu erfahren, dass dein bester Freund tot ist?«

Es war ein Hund. Weit draußen auf dem Fjord. Wo in aller Welt wollte der denn hin?

Wie aus dem Nichts kam ein nächster, wirklich neuer Gedanke. Eine Frage, die der Polizeipräsident und designierte Justizminister Mikael Bellman sich in seinem vierzigjährigen Leben noch nie gestellt hatte.

Wo in aller Welt wollten wir denn hin?

Harry hatte ein hochfrequentes Piepen im Ohr, und eines seiner Augen war von seinem eigenen Blut verklebt. Die Schläge wollten einfach nicht aufhören. Er spürte keine Schmerzen mehr, nur dass es im Auto immer dunkler und kälter wurde.

Trotzdem ließ er nicht los. Er hatte schon so oft losgelassen, dem Schmerz nachgegeben, der Angst oder seiner Sehnsucht nach dem Tod. Aber auch dem primitiven, egoistischen Über­lebensinstinkt, der das Verlangen nach dem schmerzfreien Nichts, dem ewigen Schlaf und der Dunkelheit ein ums andere Mal überwunden hatte. Und dem er zu verdanken hatte, dass er noch immer hier war. Noch immer. Er würde nicht loslassen.

Die Kiefermuskulatur schmerzte so sehr, dass er am ganzen Körper zitterte. Und die Schläge hagelten weiter auf ihn ein. Aber er ließ nicht locker. Siebzig Kilo Druck. Gelänge es ihm, den ganzen Hals zusammenzudrücken und die Blutzufuhr zum Hirn zu beeinträchtigen, würde Smith schnell ohnmächtig werden. Wenn er ihm nur die Luft abdrückte, konnte es noch mehrere Minuten dauern. Als ihn der nächste Schlag an der Schläfe traf, spürte Harry, dass auch er im Begriff war, das Bewusstsein zu verlieren. Nein! Er ruckte auf dem Sitz herum. Biss fester zu. Durchhalten, durchhalten. Löwe. Wasserbüffel. Harry zählte und atmete schnaufend durch die Nase. Hundert. Die Schläge hörten nicht auf, aber wurden die Abstände zwischen den einzelnen Schlägen nicht größer und hatte den letzten nicht etwas Kraft gefehlt? Smiths Finger legten sich auf Harrys Gesicht und versuchten, ihn wegzudrücken. Dann gab er es auf. Ließ von ihm ab. War Smiths Hirn endlich so sauerstoffleer, dass es ihm die Arbeit verweigerte? Harry spürte die Erleichterung und würgte noch einmal Smiths Blut herunter. Im gleichen Moment meldete sich ein Gedanke. Glasklar. Valentins Prophezeiung. Hast darauf gewartet, dass du auch einmal der Vampir sein darfst … Und eines Tages wirst auch du einen Schluck nehmen. Vielleicht war es der Gedanke, der dazu führte, dass einen Moment seine Konzentration nachließ, denn im selben Augenblick spürte Harry, wie der Revolver unter seiner Schuhsohle sich bewegte. Er hatte den Druck seines Fußes gelockert, und Smith hatte zu schlagen aufgehört, um doch noch die Waffe zu ergreifen. Mit Erfolg.

Katrine blieb in der Tür des Saals stehen.

Bis auf die zwei Frauen, die Arm in Arm in der ersten Reihe saßen, war der Raum jetzt leer.

Sie musterte die beiden. Ein ungleiches Paar. Rakel und Ulla. Die Ehepartner von zwei Todfeinden. War es wirklich so, dass Frauen leichter Trost bei anderen fanden als Männer? Katrine wusste es nicht. Diese Art von Schwesternschaft hatte sie nie interessiert.

Sie ging zu ihnen. Ulla Bellmans Schultern zitterten leicht, aber sie weinte nur noch leise.

Rakel sah mit fragendem Blick zu Katrine.

»Wir haben nichts gehört«, sagte Katrine.

»Okay«, erwiderte Rakel. »Er wird schon klarkommen.«

Katrine dachte, dass das eigentlich ihre Antwort war, nicht Rakels. Rakel Fauke. Die dunkle, starke Frau mit den sanften braunen Augen. Katrine hatte immer Eifersucht empfunden. Nicht weil sie sich das Leben der anderen wünschte oder Harrys Frau sein wollte. Harry konnte eine Frau vielleicht befriedigen oder für eine Weile glücklich machen, aber auf lange Sicht brachte er nur Trauer, Verzweiflung und Zerstörung. Auf lange Sicht brauchte man jemanden wie Bjørn Holm. Und trotzdem beneidete sie Rakel Fauke. Weil Harry Hole nur sie wollte.

»Entschuldigung.« Ståle Aune hatte den Saal betreten. »Man hat mir einen Raum zur Verfügung gestellt, in den wir gehen können.«

Ulla Bellman nickte schniefend, stand auf und ging mit Aune nach draußen.

»Krisenpsychologie?«, fragte Katrine.

»Ja«, sagte Rakel. »Und das Seltsame ist, dass das wirklich funktioniert.«

»Tut es?«

»Ja, ich weiß das. Wie geht es dir?«

»Mir

»Ja. All diese Verantwortung. Und dann noch die Schwangerschaft. Und du stehst Harry doch auch nah.«

Katrine strich sich mit der Hand über den Bauch. Ein seltsamer Gedanke kam ihr, auf jeden Fall ein Gedanke, den sie noch nie gehabt hatte. Wie nah beides beieinander war. Die Geburt und der Tod. Als wäre das eine ein Teil des anderen, als bräuchte man bei der unerbittlichen Reise nach Jerusalem einen Toten, um Platz für ­einen neuen Menschen zu haben.

»Wisst ihr schon, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?«

Katrine schüttelte den Kopf.

»Name?«

»Bjørn hat Hank vorgeschlagen«, sagte Katrine. »Nach Hank Williams.«

»Klar. Dann glaubt er, dass es ein Junge wird?«

»Unabhängig vom Geschlecht.«

Sie lachten. Und dieses Lachen kam ihnen beiden nicht im Ansatz absurd vor. Sie lachten und plauderten über das nah bevorstehende Leben, statt über den nah bevorstehenden Tod. Weil das Leben magisch und der Tod trivial ist.

»Ich muss gehen, aber ich sage dir Bescheid, sobald wir etwas wissen«, sagte Katrine.