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Rakel nickte. »Ich bleibe hier. Sag, wenn ich helfen kann.«

Katrine stand auf. Zögerte, schien dann aber einen Entschluss zu fassen und streichelte sich noch einmal mit der Hand über den Bauch. »Ich denke manchmal daran, dass ich dieses Kind auch verlieren könnte.«

»Das ist natürlich.«

»Und dann frage ich mich, was von mir dann noch bliebe. Und ob ich weitermachen könnte.«

»Das könntest du«, sagte Rakel mit Nachdruck.

»Du musst mir versprechen, dass du das auch kannst«, sagte Katrine. »Du sagst, dass Harry schon klarkommt, und Hoffnung ist wichtig. Ich sollte dir aber auch sagen, dass Delta … dass sie ein Profil vom Geiselnehmer erstellt haben, also von Hallstein Smith, und dass er wahrscheinlich … also, dass es zu ihm passen würde, wenn er …«

»Danke«, sagte Rakel und nahm Katrines Hand. »Ich liebe Harry, und sollte ich ihn jetzt wirklich verlieren, verspreche ich dir, dass ich weitermache.«

»Und Oleg, wie wird er …?«

Katrine sah den Schmerz in Rakels Augen und bereute die Frage sofort. Sie sah, dass Rakel etwas zu sagen versuchte, es aber nicht schaffte und stattdessen nur mit den Schultern zuckte.

Als sie nach draußen auf den Platz trat, hörte sie ein Knattern und sah nach oben. Das Sonnenlicht reflektierte auf dem Heli­kopter, der am Himmel stand.

John D. Steffens öffnete die Tür der Notaufnahme, sog die kalte Winterluft ein und ging zu dem älteren Rettungssanitäter, der allein mit geschlossenen Augen an der Wand lehnte und sich von der Sonne das Gesicht wärmen ließ. Langsam und genussvoll rauchte er.

»Nun, Hansen?«, sagte Steffens und lehnte sich neben ihm an die Wand.

»Guter Winter«, sagte der Sanitäter, ohne die Augen zu öffnen.

»Könnte ich …?«

Der Sanitäter kramte nach der Schachtel und bot ihm eine ­Zigarette an.

Steffens nahm sie an und fischte auch das Feuerzeug aus der Packung.

»Wird er überleben?«

»Das werden wir sehen«, sagte Steffens. »Wir haben wieder ein bisschen Blut in seinen Körper pumpen können, aber die Kugel steckt weiterhin in ihm.«

»Was glauben Sie, wie viele Leben müssen Sie retten, Steffens?«

»Was?«

»Sie hatten Nachtschicht und sind noch immer hier. Wie gewöhnlich. Also, wie viele haben Sie sich vorgenommen zu retten, um das wiedergutzumachen?«

»Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie reden, Hansen.«

»Von Ihrer Frau. Die Sie nicht retten konnten.«

Steffens antwortete nicht, sondern inhalierte tief.

»Ich habe mich umgehört«, sagte der Sanitäter.

»Warum?«

»Weil ich mir Sorgen um Sie gemacht habe. Und weil ich weiß, wie das ist. Auch ich habe meine Frau verloren. Aber all die Überstunden, all die geretteten Leben bringen Ihnen Ihre Frau nicht zurück, das wissen Sie, oder? Und eines Tages werden Sie einen Fehler machen, weil Sie zu müde sind. Und dann haben Sie noch ein Leben auf dem Gewissen.«

»Werde ich das?«, fragte Steffens und gähnte. »Kennen Sie ­einen Hämatologen, der besser in Notfallmedizin ist als ich?«

»Wie lange ist es her, dass Sie zuletzt die Sonne gesehen haben?« Der Sanitäter drückte die Zigarette an der Wand aus und steckte die Kippe in die Tasche. »Bleiben Sie hier stehen, rauchen Sie zu Ende, genießen Sie den Tag. Und dann gehen Sie nach Hause und schlafen.«

Steffens schloss die Augen und hörte, wie die Schritte des Sanitäters sich entfernten.

Schlafen.

Er wünschte sich, dass er das könnte.

Es war 2152 Tage her. Nicht, dass Ina, seine Frau und Anders’ Mutter, gestorben war – das lag 2912 Tage zurück. 2152 Tage, seit er Anders das letzte Mal gesehen hatte. In der ersten Zeit nach Inas Tod hatten sie wenigstens noch sporadisch miteinander geredet, auch wenn Anders wütend gewesen war und ihm die Schuld gegeben hatte, dass man sie nicht hatte retten können. Berechtigt. Anders war ausgezogen, war geflohen und hatte dafür gesorgt, einen möglichst großen Abstand zwischen sich und seinen Vater zu bringen. Auch indem er seinen ursprünglichen Plan, Medizin zu studieren, fallengelassen hatte und stattdessen auf die Polizeihochschule gegangen war. In einem dieser sporadischen, lautstarken Streitgespräche hatte Anders gesagt, dass er lieber wie einer seiner Dozenten wurde. Er meinte damit den früheren Hauptkommissar Harry Hole, den Anders allem Anschein nach vergötterte, wie er einmal seinen Vater vergöttert hatte. Steffens hatte Anders an all seinen verschiedenen Adressen besucht, auf der Polizeihochschule und weit im Norden, wo er seinen ersten Job gehabt hatte, war aber immer wieder abgewiesen worden. Er hatte seinen Sohn in dieser Zeit richtiggehend gestalkt, damit er endlich verstand. Und weil sie beide ein bisschen weniger verlören, wenn sie nicht auch noch sich verlören. Gemeinsam könnten sie sie wenigstens ein klein wenig am Leben erhalten. Aber Anders hatte nichts davon hören wollen.

Als Rakel Fauke zu ihm in die Sprechstunde kam und ihm klarwurde, dass sie die Frau von Harry Hole war, war er natürlich neugierig geworden. Was hatte dieser Harry Hole, das Anders so anzog? Konnte er von diesem Mann etwas lernen, das ihm half, sich Anders wieder anzunähern? Aber dann hatte er bemerkt, dass Holes Stiefsohn, Oleg, genau wie Anders reagierte, als er bemerkte, dass Harry Hole seine Mutter nicht retten konnte. Es war immer dieselbe Interpretation väterlichen Versagens.

Schlafen.

Es war ein Schock gewesen, Anders heute zu sehen. Sein erster, dummer Gedanke war, dass sie beide getäuscht worden waren und Oleg und Harry eine Art Versöhnungstreffen arrangiert hatten.

Endlich schlafen.

Es wurde dunkler, und die Haut auf seinem Gesicht wurde kalt. Eine Wolke. John D. Steffens öffnete die Augen. Jemand stand vor ihm, eingerahmt von einem Glorienschein aus Sonnenstrahlen.

»Wann hast du wieder angefangen?«, fragte die Silhouette. »Ich dachte, du wärst Arzt.«

John D. Steffens blinzelte. Das Licht stach ihm in die Augen. Er musste sich räuspern, damit ihm nicht die Stimme versagte. »Anders?«

»Berntsen wird überleben.« Pause. »Dank dir, sagen sie.«

Clas Hafslund saß in seinem Wintergarten und sah über den Fjord. Das Wasser, das sich in einer dünnen, glatten Schicht auf das Eis gelegt hatte, ließ die ganze Fläche wie einen gigantischen Spiegel aussehen. Er hatte die Zeitung beiseitegelegt, in der wieder einmal seitenweise über diesen Vampiristen berichtet wurde. Dass sie dieses Thema nicht leid wurden. Hier draußen auf Nesøya gab es solche Monster glücklicherweise nicht. Hier war es das ganze Jahr hindurch ruhig und friedlich. Sah man einmal von dem nervenaufreibenden Knattern des Helikopters ab, den er seit ein paar Augenblicken hörte. Bestimmt ein Unfall auf der E18. Clas Hafslund zuckte zusammen, als es plötzlich knallte und die Schallwellen über den Fjord getragen wurden.

Ein Schuss.

Es hörte sich an, als wäre er von einem der Nachbargrund­stücke gekommen. Hagen oder Reinertsen. Die beiden Kaufleute stritten seit Jahren darüber, ob ihre Grundstücksgrenze rechts oder links an einer alten Eiche entlangführte. Reinertsen hatte in einem Interview in der Lokalzeitung gesagt, dass diesem Nachbarschaftsstreit durchaus etwas Absurdes anhaftete, da es ja nur um wenige Quadratmeter zweier riesiger Grundstücke gehe. Andererseits gehe es um das Prinzip des Eigentumsrechts und damit um eine ernste Sache. Er sei sich sicher, dass die Grundbesitzer auf Nesøya ihm recht geben würden, dass jeder verantwortungsvolle Bürger um dieses Recht kämpfen müsse. Außerdem gebe es keinen Zweifel, dass dieser Baum zum Reinertsen-Anwesen gehöre, er sei sogar auf dem Wappen der Familie, von der er das Gut gekauft hatte. Eindeutig seine Eiche. Reinertsen hatte sich des Weiteren darüber ausgelassen, wie sehr ihm der Anblick des mächtigen Baumes und die Gewissheit, dass dieses Schmuckstück ihm gehöre, das Herz wärmten (der Journalist hatte in diesem Zusammenhang angedeutet, dass Reinertsen auf dem Dach sitzen müsse, um den Baum sehen zu können). Am Tag nachdem das Interview abgedruckt worden war, hatte Hagen den Baum gefällt, mit dem Holz seinen Kamin angeheizt und der Zeitung gesagt, dass dieser Baum ihm jetzt nicht nur das Herz, sondern auch die Zehen wärmte. Und dass Reinertsen sich von nun an damit begnügen müsse, den Anblick des Rauches zu genießen, der aus dem Schornstein des Nachbarhauses käme. In den nächsten Jahren würde er ausschließlich dieses Holz in seinem Kamin verbrennen. Trotz dieser Provokation konnte Clas Hafslund aber nicht glauben, dass Reinertsen Hagen nur wegen dieses Baumes erschossen hatte.