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Hafslund sah eine Bewegung unten an dem alten Bootshaus, das rund hundertfünfzig Meter von seinem und dem Anwesen seines Nachbarns entfernt lag. Ein Mann, er trug einen Anzug, stakste auf das Eis hinaus und zog ein Aluminiumboot hinter sich her. Clas kniff die Augen zusammen. Der Mann taumelte und ging auf dem Eis in die Knie. Dann drehte er sich zu Clas Hafslunds Haus um, als hätte er bemerkt, dass ihn jemand beobachtete. Das Gesicht des Mannes war schwarz. Ein Flüchtling? Waren die jetzt schon auf Nesøya? Alarmiert griff er zum Fernglas, das auf dem Regal hinter ihm stand, und richtete es auf den Mann. Nein. Er war nicht schwarz. Das Gesicht des Mannes war voller Blut. Zwei weiße Augen starrten aus all dem Rot hervor. Jetzt legte er beide Hände auf die Reling und drückte sich wieder hoch, ehe er taumelnd ein Seil ergriff und das Boot mit beiden Händen hinter sich herzog. Clas Hafslund war nicht religiös, trotzdem glaubte er Jesus zu sehen, der über das Wasser ging. Jesus, der sein Kreuz in Richtung Golgatha schleppte. Jesus, der von den Toten auferstanden war, um Clas Hafslund und ganz Nesøya heimzusuchen. Jesus mit einem großen Revolver in der einen Hand.

Sivert Falkeid saß vorn im Rib-Boot, den Wind im Gesicht. Er hatte das Fernglas auf Nesøya gerichtet. Dann sah er ein letztes Mal auf die Uhr. Es war exakt dreizehn Minuten her, dass sein Team den Hinweis bekommen und diesen sogleich mit der Geiselnahme in Verbindung gebracht hatte.

»Von Nesøya werden Schüsse gemeldet.«

Ihre Reaktionszeit war akzeptabel. Sie würden dort sein, noch ehe die ersten Einsatzfahrzeuge, die auch in Richtung Nesøya geschickt worden waren, ankamen. Aber jede Kugel war schneller, das war klar.

Er sah das Aluminiumboot und den Schatten im Wasser, dort wo die Eisfläche begann.

»Jetzt«, brüllte er und trat nach hinten zu den anderen, so dass der Bug hochging und sie mit vollem Tempo in Richtung Eisrand rasten. Der Polizist, der das Boot steuerte, kippte den Motor aus dem Wasser. Gleich darauf ging ein Ruck durch das Boot, und Falkeid hörte, wie sie weiterhin bei hoher Geschwindigkeit nun mit einem kratzenden Geräusch über das Eis glitten. Falkeid hoffte, dass das Eis sie weit genug trug.

Als das Boot stillstand, stieg Sivert Falkeid über die Reling und setzte vorsichtig einen Fuß auf das Eis. Das Wasser reichte ihm bis zum Knöchel.

»Gebt mir zwanzig Meter, dann folgt ihr mir«, sagte er. »Zehn Meter zwischen jedem Mann.«

Falkeid watete in Richtung Aluminiumboot. Er schätzte den Abstand auf dreihundert Meter. Das kleine Boot sah verlassen aus, aber der Bericht besagte, dass der Mann, der den Schuss abgefeuert hatte, das Boot aus Hallstein Smiths Bootshaus gezogen hatte.

»Das Eis trägt«, flüsterte er ins Funkgerät.

Jeder Polizist des Kommandos hatte einen Pickel dabei, der mit einem Seil an seiner Uniform befestigt war, so dass die Männer sich, sollten sie einbrechen, aus eigener Kraft zurück aufs Eis ziehen konnten. Das Seil des Pickels hatte sich um den Lauf von Falkeids Maschinenpistole gewickelt, so dass er den Blick senken musste, um die Waffe zu befreien.

Im gleichen Moment knallte ein Schuss. Sivert hatte keine Ahnung, woher er kam, und warf sich automatisch ins Wasser.

Es knallte noch einmal. Und dieses Mal sah er eine kleine Rauchwolke aus dem Boot aufsteigen.

»Schüsse aus dem Boot«, hörte er im Ohrhörer. »Wir haben es alle im Korn. Erwarten Befehle, ob wir es in die Hölle schicken sollen.«

Sie waren darüber informiert worden, dass Smith mit einem Revolver bewaffnet war, das Risiko, dass er Falkeid über eine ­Distanz von zweihundert Metern traf, war demnach sehr gering. Trotzdem war das wieder eine dieser Situationen. Sivert Falkeid holte tief Luft und spürte das lähmend kalte Wasser durch seine Kleidung bis auf die Haut dringen. Seine Aufgabe war es nicht, zu überlegen, was es den Staat kosten würde, das Leben dieses Se­rienmörders zu retten. Gerichtsverfahren, Bewachung und Aufenthalt im Fünf-Sterne-Gefängnis kosteten Geld. Seine Aufgabe war es, die Bedrohung einzuschätzen, die von diesem Mann für seine Männer oder für andere ausging, und entsprechend zu reagieren. Er durfte jetzt nicht an Kindergartenplätze, Krankenbetten oder die Renovierung heruntergekommener Schulen denken.

»Feuer frei«, sagte Sivert Falkeid.

Keine Antwort.

Keine Antwort. Nur der Wind und das Knattern des Helikopters in der Ferne.

»Schießt«, wiederholte er.

Noch immer keine Bestätigung. Der Helikopter näherte sich.

»Hörst du mich?«, kam es durch den Ohrhörer. »Bist du verletzt?«

Falkeid wollte den Befehl wiederholen, als ihm klarwurde, dass wieder das passiert war, was schon bei der Übung in Haakonsvern passiert war. Das Salzwasser hatte das Mikrofon zerstört, nur der Empfänger funktionierte noch. Er drehte sich zu dem Boot um und rief, aber seine Stimme wurde von dem Helikopter übertönt, der jetzt unmittelbar über ihnen in der Luft stand. Dann gab er das interne Handsignal, damit das Feuer eröffnet wurde, zwei Schläge mit der geballten rechten Faust. Noch immer keine Reaktion. Was war da los? Falkeid lief zurück zum Gummiboot, als er sah, dass zwei der Männer, ohne sich zu ducken, auf das Eis traten.

»Runter!«, schrie er, aber sie kamen ruhig auf ihn zu.

»Wir haben Kontakt mit dem Helikopter!«, rief einer der beiden durch den Lärm. »Sie sehen ihn, er liegt im Boot.«

Er lag mit geschlossenen Augen am Boden des Bootes und ließ die Sonne auf sich scheinen. Er hörte nichts, stellte sich aber vor, dass das Wasser glucksend von unten gegen das Boot platschte. Dass es Sommer war und die ganze Familie im Boot saß. Ein Familienausflug. Kinderlachen. Wenn er die Augen lange genug geschlossen hielt, konnte er dort vielleicht bleiben.

Er wusste nicht, ob das Boot trieb oder sein Gewicht es auf dem Eis festhielt. Aber das spielte keine Rolle. Er wollte nirgendwohin. Die Zeit stand still. Vielleicht hatte sie das immer getan, vielleicht war sie gerade eben erst stehengeblieben. Für ihn und für den, der noch im Amazon saß. War es auch für ihn Sommer geworden? War auch er jetzt an einem besseren Ort?

Etwas schirmte die Sonne ab. Eine Wolke? Ein Gesicht? Ja, ein Gesicht. Das Gesicht einer Frau. Wie eine im Dunkeln liegende Erinnerung, die plötzlich wiederkam. Sie saß auf ihm und ritt ihn. Flüsterte, dass sie ihn liebe, dass sie das immer getan habe, und dass sie darauf gewartet habe. Ob er wie sie spüre, dass die Zeit jetzt stillstehe. Er nahm die Vibration des Bootes wahr, hörte ihr lauter werdendes Stöhnen, bis es wie ein langgezogener Schrei klang, als hätte er ein Messer in sie gerammt. Er ließ die Luft aus seinen Lungen und kam. In diesem Moment starb sie auf ihm. Ihr Kopf knallte auf seine Brust, während der Wind an den Fenstern über dem Bett rüttelte. Und bevor die Zeit wieder zu laufen begann, schliefen sie beide ein, bewusstlos, erinnerungslos, gewissenlos.

Er öffnete die Augen.

Es sah aus wie ein großer, rüttelnder Vogel.

Ein Helikopter. Zehn bis zwanzig Meter über ihm, trotzdem hörte er nichts, wusste jetzt aber, was das Boot so vibrieren ließ.

Katrine stand frierend vor dem Bootshaus, während die anderen zum Amazon gingen.

Sie sah, wie sie rechts und links die Türen öffneten und ein Arm in einem Anzugärmel nach draußen kippte. Auf der falschen Seite. Auf Harrys Seite. Die nackte Hand war blutig. Der Beamte steckte den Kopf in den Wagen, vermutlich um zu überprüfen, ob noch ein Puls zu fühlen war. Es dauerte, irgendwann konnte Katrine sich nicht mehr beherrschen und hörte ihre ­eigene zitternde Stimme: »Lebt er?«