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»Vielleicht«, rief der Beamte, um den Lärm des Helikopters draußen über den Fjord zu übertönen. »Ich spüre keinen Puls, es ist aber möglich, dass er atmet. Aber wenn er lebt, hat er nicht mehr lang, glaube ich.«

Katrine trat ein paar Schritte näher. »Der Rettungswagen ist unterwegs. Gibt es eine Schusswunde?«

»Kann ich nicht sehen, da ist zu viel Blut.«

Katrine ging ins Bootshaus. Sie starrte auf die Hand, die aus der Tür hing und aussah, als suchte sie nach etwas, woran sie sich festhalten konnte. Nach jemandem. Sie fuhr sich über den Bauch. Es gab etwas, das sie ihm hätte sagen müssen.

»Ich glaube, du irrst dich«, sagte der andere Beamte. »Der ist schon tot. Guck dir doch mal seine Pupillen an.«

Katrine schloss die Augen.

Er starrte in die Gesichter, die auf beiden Seiten des Bootes über ihm aufgetaucht waren. Einer von ihnen hatte die schwarze Maske abgesetzt, sein Mund öffnete sich und formte Worte. So angespannt, wie sein Hals aussah, schrie er.

Vielleicht wollte er, dass er den Revolver losließ. Vielleicht schrie er seinen Namen. Vielleicht forderte er Rache.

Katrine trat auf Harrys Seite des Wagens und ging bis zur Tür. Atmete tief durch und sah hinein.

Mit starrem Blick. Spürte, dass der Schock sie noch härter traf, als sie es erwartet hatte. Im Hintergrund war jetzt die Sirene des Rettungswagens zu hören, aber sie hatte mehr Tote gesehen als die anderen Beamten und wusste schon nach einem kurzen Blick, dass dieser Körper für immer unbewohnt war. Sie kannte ihn und wusste, dass das nur die Hülle war, die er hinterlassen hatte.

Sie schluckte. »Er ist tot. Nicht anfassen.«

»Aber wir sollten doch wenigstens einen Wiederbelebungsversuch machen. Vielleicht …«

»Nein«, sagte sie mit Nachdruck. »Nicht.«

Sie stand da, spürte, wie der Schockzustand langsam wich und der Überraschung Platz machte. Überraschung darüber, dass Hallstein Smith selbst gefahren war und nicht der Geisel das Steuer überlassen hatte. Und dass das, was sie für Harrys Platz gehalten hatte, nicht Harrys Platz war.

Harry lag am Boden des Bootes und sah nach oben. Die Gesichter der Männer, der Helikopter, der die Sonne abschirmte, der blaue Himmel. Er hatte es geschafft, den Fuß wieder nach unten zu drücken, bevor Hallstein den Revolver richtig zu fassen bekommen hatte. In diesem Moment schien Hallstein Smith aufgegeben zu haben. Vielleicht bildete Harry sich das ein, aber er hatte geglaubt, durch die Zähne in seinem Mund gespürt zu haben, wie der Puls des anderen schwächer und schwächer geworden und dann, irgendwann, nicht mehr zu spüren gewesen war. Harry hatte zweimal das Bewusstsein verloren, bis er die Hände mit den Handschellen nach vorne bekommen, den Gurt gelöst und die Schlüssel der Handschellen aus seiner Jacken­tasche gefischt hatte. Der Zündschlüssel des Amazon war abgebrochen, und er wusste, dass er nicht die Kraft hatte, über den steilen, ­eisigen Weg nach oben zur Hauptstraße zu gehen oder über die hohen Zäune auf eines der Nachbargrundstücke rechts und links des Weges zu klettern. Er hatte um Hilfe gerufen, aber es war so, als hätte Smith ihm die Stimme aus dem Leib geprügelt. Seine leisen Rufe waren vom Knattern eines Helikopters irgendwo in der Nähe übertönt worden. Vermutlich der ­Polizeihelikopter. Deshalb hatte er den Revolver genommen, war vor das Bootshaus getreten, hatte in die Luft geschossen und gehofft, dass der Helikopter irgendwie informiert wurde. Um aus der Luft entdeckt zu werden, hatte er Smiths Boot aus dem Bootshaus aufs Eis gezogen, sich hineingelegt und weitere Schüsse abgefeuert.

Er ließ den Schaft der Ruger los. Sie hatte ihren Job getan. Es war vorbei. Er konnte jetzt wieder zurück. Zurück in den Sommer. Als er zwölf Jahre alt war und in einem Boot lag, den Kopf auf dem Schoß seiner Mutter und gemeinsam mit Søs einer Geschichte seines Vaters lauschte. Irgendeine über einen eifersüchtigen General während des Krieges zwischen den Venezianern und den Türken, und Harry wusste genau, dass er sie später, wenn sie ins Bett gingen, seiner Schwester erklären musste. Wor­auf er sich eigentlich ein bisschen freute, denn wie lange es auch dauern würde, sie würden nicht eher aufgeben, bis sie den Zusammenhang verstanden hatte. Und Harry liebte Zusammenhänge. Auch wenn er ganz tief in seinem Inneren wusste, dass es keinen gab.

Er schloss die Augen.

Sie war noch immer da. An seiner Seite. Und jetzt flüsterte sie ihm ins Ohr:

»Harry, glaubst du, dass du auch Leben geben kannst?«

Epilog

Harry schenkte ein Glas Jim Beam ein. Stellte die Flasche zurück ins Regal. Nahm das Glas und stellte es neben das Weißweinglas vor Anders Wyller. Dahinter drängelten sich andere Kunden zum Tresen.

»Du siehst viel besser aus«, sagte Anders und sah in sein Whiskyglas, ohne es anzurühren.

»Dein Vater hat mich wieder zusammengeflickt«, sagte Harry. Sein Blick ging zu Øystein, der ihm nickend zu verstehen gab, dass er die Burg eine Weile allein verteidigen konnte. »Wie läuft’s im Dezernat?«

»Gut«, sagte Anders. »Aber du weißt ja. Die Ruhe nach dem Sturm.«

»Hm. Du weißt aber schon, dass das …«

»Ja, Gunnar Hagen hat mich heute gefragt, ob ich vorübergehend die Assistenz der Ermittlungsleitung übernehmen möchte, während Katrine im Mutterschutz ist.«

»Gratuliere. Aber bist du nicht ein bisschen jung dafür?«

»Er hat gesagt, dass du mich vorgeschlagen hättest.«

»Ich? Das muss dann gewesen sein, als ich noch diese Gehirnerschütterung hatte.« Harry drehte den Verstärker auf, als »Tampa to Tulsa« von The Jayhawks lief.

Anders lächelte. »Ja, mein Vater hat mir gesagt, dass du ganz schön Prügel eingesteckt hast. Wann hast du eigentlich kapiert, dass er mein Vater ist?«

»Das hatte mit Kapieren nichts zu tun, das war eine logische Indizienkette. Die Rechtsmedizin hatte bei einer DNA-Analyse seines Haares herausgefunden, dass es eine Übereinstimmung mit einem der DNA-Profile an einem der Tatorte gab. Nicht mit einem der Verdächtigen, sondern mit dem Profil eines Ermittlers, es werden ja die von allen gespeichert, die am Tatort waren. Und das war deines, Anders. Aber der Treffer hatte nur eine teilweise Übereinstimmung. Verwandtschaft also. Ein Vater-Sohn-Treffer. Du hast das Resultat als Erster bekommen, es aber ­weder an mich noch an sonst wen bei der Polizei weitergegeben. Als ich schließlich von diesem Match erfahren habe, war es ein Leichtes, herauszufinden, dass Oberarzt Steffens’ verstorbene Frau den Mädchennamen Wyller hatte. Warum hast du mich ­eigentlich nicht informiert?«

Anders zuckte mit den Schultern. »Es schien mir für unseren Fall keine Bedeutung zu haben.«

»Und du wolltest nicht mit ihm in Verbindung gebracht werden? Deshalb trägst du auch den Mädchennamen deiner Mutter, oder?«

Anders nickte. »Das ist eine lange Geschichte, aber es geht besser jetzt. Wir reden wieder miteinander. Er ist ein bisschen demütiger geworden, hat eingesehen, dass er nicht Mister Perfect ist. Und ich bin … tja, vielleicht älter und klüger geworden. Wer weiß. Und wie hast du erkannt, dass Mona in meiner Wohnung war?«

»Deduktion.«

»Natürlich, wie in …«

»Der Geruch in deinem Flur. Old Spice. Rasierwasser. Du warst aber nicht rasiert. Und Oleg hatte erwähnt, dass Mona Daa Old Spice als Parfüm trägt. Außerdem dieser Katzenkäfig. So etwas hat man einfach nicht. Außer man hat häufig Besuch von einer Frau mit Katzenallergie.«

»Du lieferst wirklich ab, Harry.«

»Du auch, Anders. Ich glaube aber trotzdem, dass du noch zu jung und unerfahren für diesen Job bist.«

»Und warum hast du mich dann vorgeschlagen? Ich bin ja noch nicht mal Hauptkommissar.«

»Damit du dir Gedanken machst und erkennst, in welchen ­Bereichen du noch Schwachstellen hast. Damit du besser wirst und das Angebot erst einmal ablehnst.«

Anders schüttelte den Kopf und lachte. »Okay, genau das habe ich getan.«