»Danke. Aber trinkt ihr nichts?«
»Ich habe eine Kopfschmerztablette genommen«, sagte Rakel. »Und Harry trinkt keinen Alkohol.«
»Trockener Alkoholiker«, sagte Harry. »Was eigentlich schade ist, denn dieser Wein soll wirklich gut sein.«
Rakel sah, wie Helgas Wangen sich röteten, und beeilte sich zu fragen: »Dann bringt euch Ståle was über Shakespeare bei?«
»Ja und nein«, sagte Oleg. »Das Othello-Syndrom besagt seiner Meinung nach, dass Eifersucht das Motiv für den Mord in dem Stück ist, aber das ist nicht richtig. Helga und ich haben gestern Othello gelesen …«
»Ihr habt zusammen gelesen?« Rakel legte eine Hand auf Harrys Arm. »Ist das nicht süß?«
Oleg verdrehte die Augen. »Wie auch immer, meine Deutung ist, dass das eigentliche, viel tiefer liegende Motiv aller Morde nicht Eifersucht, sondern Missgunst und der Ehrgeiz eines gekränkten Mannes sind. Nämlich Jagos. Othello ist nur eine Marionette. Das Stück sollte Jago heißen, nicht Othello.«
»Und du bist auch dieser Meinung, Helga?«, fragte Rakel. Sie mochte das nette, etwas anämische, wohlerzogene Mädchen, das wirklich schnell die Kurve gekriegt hatte. »Ich finde Othello als Titel passend, vielleicht gibt es gar kein tieferliegendes Motiv. Möglicherweise ist es einfach so, wie Othello es selbst sagt. Dass nämlich der Vollmond schuld ist, dass die Männer verrücktspielen.«
»No reason«, sagte Harry mit betont würdevoller Stimme und sauberer englischer Aussprache. »I just like doing things like that.«
»Beeindruckend, Harry«, sagte Rakel. »Du zitierst Shakespeare?«
»Walter Hill«, sagte Harry. »Die Warriors, 1979.«
»Yeah«, sagte Oleg lachend. »Der beste Gang-Film aller Zeiten.«
Rakel und Helga lachten mit. Harry hob sein Wasserglas an und sah zu Rakel hinüber. Lächelte. Lachen am gemeinsamen Tisch. Und sie dachte, dass er jetzt, in diesem Moment, wirklich hier war, hier bei ihnen. Sie versuchte, seinen Blick festzuhalten, ihn festzuhalten. Aber kaum merkbar, so wie die Farbe des Meeres sich von Grün zu Blau verändert, geschah es. Sein Blick richtete sich wieder nach innen. Und sie wusste, dass er, noch bevor das Lachen verstummt war, wieder von ihnen wegtrieb, hinein ins Dunkel.
Truls ging im Dunkeln die Treppe hoch. Geduckt, die Waffe im Anschlag, folgte er dem großgewachsenen Beamten mit der Taschenlampe. Die Stille wurde nur von einem Ticken unterbrochen, das von weiter oben kam, wie von einer Uhr. Der Lichtkegel schien die Dunkelheit vor sich herzuschieben und sie nur dichter und schwerer zu machen. Wie der Schnee, den Truls und Mikael in ihrer Jugend für ein paar Senioren in Manglerud geräumt hatten. Um anschließend einen Hunderter aus den knochigen Händen der Alten zu ziehen und zu sagen, dass sie ihnen das Wechselgeld dann vorbeibringen würden. Sollten sie gewartet haben, warteten sie noch heute.
Es knirschte unter den Schuhsohlen.
Truls packte die Jacke des Polizisten, der stehen blieb und die Taschenlampe nach unten richtete. Glasscherben glitzerten, und dazwischen sah Truls einen undeutlichen Schuhabdruck mit Absatz in etwas, das wie Blut aussah. Zu groß für eine Frau. Der Abdruck zeigte treppabwärts, Truls glaubte aber nicht, dass es weiter unten noch andere Abdrücke gab, die hätte er gesehen. Das Ticken war lauter geworden.
Truls gab dem Polizisten mit der Hand zu verstehen, dass er weiter nach oben gehen sollte. Er starrte auf die Stufen und sah jetzt deutliche Abdrücke. Dann richtete er den Blick nach vorn, blieb stehen und hob seine Waffe an. Ließ den Polizisten weitergehen. Truls hatte etwas gesehen. Etwas, das durch das Licht fiel. Glitzernd und rot. Es war kein Ticken, das sie gehört hatten, sondern das Klatschen von Blutstropfen auf die Treppenstufen.
»Leuchten Sie nach oben«, sagte er.
Der Polizist blieb stehen, drehte sich um und war sichtlich verwirrt, dass der Kollege, den er dicht hinter sich wähnte, viel weiter unten stand und nach oben Richtung Decke starrte. Aber er tat, was Truls sagte.
»Jesses«, flüsterte er.
»Amen«, sagte Truls.
An der Wand über ihnen hing eine Frau.
Ihr kariertes Kleid war so weit hochgeschoben, dass ein Teil ihres weißen Slips zu sehen war. Aus einem der Oberschenkel, etwa in Kopfhöhe des Polizisten, rann Blut aus einer großen Wunde. Es lief über das Bein in den Schuh der Frau, der bereits voll zu sein schien, weil die Tropfen sich in der Schuhspitze sammelten und von dort in eine rote Lache tropften, die sich auf einer der Stufen gebildet hatte. Die Arme waren über dem vorgeneigten Kopf nach oben gestreckt und mit Handschellen über dem Stahlarm der Lampe gefesselt. Wer immer die Frau dort aufgehängt hatte, musste stark sein. Ihre Haare verdeckten das Gesicht und den Hals, weshalb Truls keine Bisswunde sehen konnte, aber die Größe der Blutlache und das langsame Tropfen verrieten ihm, dass sie ohnehin fast leer war.
Truls betrachtete sie, versuchte sich jedes noch so kleine Detail zu merken. Sie sah aus wie ein Gemälde. Den Ausdruck wollte er gebrauchen, wenn er mit Mona Daa redete. Sie hing wie ein Gemälde an der Wand.
Auf dem Treppenabsatz über ihnen wurde eine Tür einen Spaltbreit geöffnet. Ein blasses Gesicht wurde sichtbar. »Ist er weg?«
»Sieht so aus. Amundsen?«
»Ja.«
Licht strömte in den Flur, als die Tür aufging. Sie hörten einen entsetzten Aufschrei.
Ein älterer Mann stapfte heraus, während eine Frau, wahrscheinlich seine Frau, ängstlich auf der Türschwelle stehen blieb. »Das … das war der Teufel persönlich«, sagte der Mann. »Sieh nur, was er getan hat.«
»Kommen Sie bitte nicht näher«, sagte Truls. »Das ist hier ein Tatort. Hat jemand den Täter gesehen?«
»Hätten wir gewusst, dass er weg ist, wären wir ins Treppenhaus gegangen und hätten nachgeschaut, ob wir etwas tun können«, sagte der Alte. »Vom Wohnzimmerfenster aus haben wir einen Mann gesehen. Er kam aus dem Haus und ging in Richtung U-Bahn. Keine Ahnung, ob er das war. Er ging so normal.«
»Wie lange ist das her?«
»Höchstens eine Viertelstunde.«
»Wie hat er ausgesehen?«
»Tja.« Der Mann drehte sich hilfesuchend zu seiner Frau um.
»Normal.«
»Ja«, bestätigte der Mann, »weder groß noch klein. Nicht blond und nicht schwarzhaarig. Anzug.«
»Grau«, fügte die Frau hinzu.
Truls nickte dem Polizisten zu, der daraufhin etwas in das Funkgerät sprach, das an seiner Brusttasche befestigt war. »Brauchen Unterstützung im Hovseterveien 44. Verdächtiger wurde gesehen, wie er etwa vor fünfzehn Minuten zu Fuß in Richtung U-Bahn ging, zirka 1,75, möglicherweise Norweger, grauer Anzug.«
Auch Frau Amundsen schlurfte jetzt in Pantoffeln nach draußen. Sie schien noch schlechter zu Fuß zu sein als ihr Mann. Zitternd richtete sie einen Zeigefinger auf die Frau an der Wand. Sie erinnerte Truls an eine der Seniorinnen, für die er Schnee geräumt hatte. Er erhob die Stimme: »Ich wiederhole, nicht näher kommen, bitte.«
»Aber …«, begann die Frau.
»Zurück in die Wohnung! Der Tatort eines Mordes darf nicht verunreinigt werden, bevor nicht die Spurensicherung da war. Wir klingeln, wenn wir Fragen haben.«
»Aber … aber sie ist nicht tot.«
Truls drehte sich um. Im Licht der offenen Tür sah er, dass der rechte Fuß der Frau leicht zitterte, als hätte sie einen Krampf. Ein Gedanke kam ihm, ohne dass er etwas dafür konnte. Er hatte sie angesteckt. Zu einem Vampir gemacht. Und jetzt wachte sie auf.
Kapitel 12
Samstag, später Abend
Metall schlug hart gegen Metall, als die Stange der Langhantel über der schmalen Bank auf dem Stativ aufsetzte. Für manche Leute war das Lärm, für Mona Daa klang es wie ein Glockenspiel. Das niemanden störte, sie war allein im Studio. Seit einem halben Jahr hatte das Gain rund um die Uhr geöffnet, angeblich inspiriert von Studios in Los Angeles und New York. Bis jetzt hatte Mona aber nach Mitternacht noch nie jemanden gesehen. Die Norweger arbeiteten nicht so lange, dass sie tagsüber keine Trainingszeit fanden. Mona Daa war eine Ausnahme. Sie wollte eine Ausnahme sein. Ein Mutant. Wie in der Evolution, die Ausnahmen brachten die Welt weiter. Perfektionierten sie.