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»Aber das hier siehst du?«, fragte Katrine und hielt die Sicherheitskette hoch, die auf der Innenseite der Tür hing.

Bjørn beugte sich zu ihr vor. Sein Duft versetzte ihr einen Stich. Vielleicht störte sie auch einfach nur die plötzliche Intimität.

»Da ist Haut«, sagte er.

»Vom Unterarm. Verstehst du?«

Er nickte langsam. »Sie hat sich den Arm an der Kette aufgeschürft, also war die dran. Nicht er hat sich an ihr vorbeigedrängt, um reinzukommen, sondern sie hat versucht, aus der Wohnung zu fliehen.«

»In Norwegen werden normalerweise keine Sicherheitsketten benutzt. Wir schließen ab, und das war’s. Wenn sie ihn vorher reingelassen hätte, einen kräftigen Mann, den sie kannte …«

»… hätte sie die Kette nicht wieder vorgelegt. Dann hätte sie sich sicher gefühlt.«

»Ergo«, übernahm Katrine, »war er bereits in der Wohnung, als sie nach Hause kam.«

»Ohne dass sie es wusste.«

»Sie hat die Kette vorgelegt, weil sie glaubte, dass das Gefährliche draußen lauert.« Katrine lief ein Schauer über den Rücken. Eine grauenvolle Erkenntnis, aber genau der Moment, in dem sie als Mordermittlerin mit einem Mal alles sah und verstand.

»Harry wäre jetzt sehr zufrieden mit dir«, sagte Bjørn. Und lachte.

»Was ist?«, fragte sie.

»Du wirst rot.«

Mann, bin ich fertig, dachte Katrine.

Kapitel 3

Donnerstagnachmittag

Katrine hatte während der Pressekonferenz Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Neben ihr saß der Leiter des Dezernats für Gewaltverbrechen, Gunnar Hagen. Er informierte kurz über die Identität und das Alter des Opfers und ging in wenigen Worten darauf ein, wo und wann die Tat geschehen war. Bei der ­ersten Pressekonferenz kurz nach einem Mordfall kam es eigentlich nur darauf an, im Namen einer modernen, offenen Demokratie an die Öffentlichkeit zu treten, dabei aber so wenig wie möglich zu sagen.

Die Blitzlichter spiegelten sich auf seinem blanken, von dunklen Haaren gesäumten Schädel, während er die kurzen Sätze, die sie gemeinsam vorbereitet hatten, vom Blatt ablas. Katrine war froh, dass Hagen das Wort führte. Nicht, dass sie das Rampenlicht scheute, aber ihre Zeit würde noch kommen. Vorläufig bevorzugte sie es als neue Chefermittlerin, Hagen dabei zu beobachten, wie es ihm dank seiner Erfahrung gelang, mehr durch Körpersprache und Ton als durch Fakten den Eindruck zu vermitteln, die Polizei habe alles unter Kontrolle.

Sie war sitzen geblieben und ließ den Blick über die Gesichter der rund dreißig Journalisten schweifen, die sich im Parolesaal im dritten Stock vor dem großen Gemälde versammelt hatten. Das Bild, das die gesamte Wand einnahm, lenkte sie ab. Es zeigte nackte, badende Menschen, die meisten kleine, schmächtige Jungs. Eine idyllische, unschuldige Szene aus einer Zeit, in der noch nicht alles gleich aufs Übelste gedeutet und interpretiert worden war. Dabei war sie keinesfalls besser, weil sie automatisch annahm, dass der Künstler pädophil war. Hagen wiederholte sein Mantra, egal, wie die Fragen der Journalisten lauteten: »Darauf können wir Ihnen leider keine Antwort geben«, leicht variiert, damit es nicht arrogant oder gar komisch wirkte. »Zum jetzigen Zeitpunkt können wir das nicht kommentieren.« Oder etwas wohlwollender: »Darauf werden wir noch zurückkommen.«

Die Presseleute schrieben mit und formulierten immer neue Fragen. »War der Leichnam übel zugerichtet?«, »Gab es Anzeichen für einen sexuellen Übergriff?«, »Hat die Polizei einen Verdächtigen, und falls ja, ist es jemand, der dem Opfer nahestand?«

Spekulative Fragen, die aufgrund der Antwort »Kein Kommentar« Raum ließen für Spannung und Nervenkitzel.

Am anderen Ende des Saals erschien eine bekannte Gestalt, mit schwarzer Klappe über dem einen Auge und in Polizeipräsidentenuniform, die, wie Katrine wusste, immer frisch gebügelt in seinem Büro hing. Mikael Bellman. Er betrat den Saal nicht, sondern blieb als stummer Zuhörer in der Tür stehen. Auch Hagen schien ihn bemerkt zu haben, denn er richtete sich unter den Augen des jüngeren Polizeipräsidenten etwas auf.

»Das wäre dann alles«, schloss der Pressesprecher.

Katrine sah Bellman die Hand heben. Er wollte sie sprechen.

»Wann wird die nächste Pressekonferenz stattfinden?«, rief Mona Daa, die Kriminalreporterin der Zeitung VG.

»Darauf werden wir zurückk…«

»Sobald wir etwas Neues haben«, unterbrach Hagen den Pressesprecher.

»Sobald« registrierte Katrine, nicht »wenn« oder »falls«. Diese kleinen Dinge, etwa die exakte Wortwahl, signalisierten, dass die Diener des Rechtsstaats unermüdlich arbeiteten, die Mühlen der Gerechtigkeit mahlten und es nur eine Frage der Zeit war, bis der Schuldige gefasst wurde.

»Etwas Neues?«, fragte Bellman, als sie durch die Eingangshalle des Präsidiums gingen. Früher hatte seine beinahe feminine Ausstrahlung – lange Wimpern, gepflegte, etwas zu lange Haare und brauner Teint mit den eigentümlichen Pigmentflecken – mitunter etwas Affektiertes, Schwächliches gehabt. Die Augenklappe ­allerdings, die bei anderen vielleicht inszeniert gewirkt hätte, vermittelte einen Eindruck von Stärke. Dieser Mann nahm rein äußerlich nicht einmal durch den Verlust eines Auges Schaden.

»Die Kriminaltechnik hat etwas in den Bisswunden gefunden«, sagte Katrine, während sie hinter Bellman durch die Kon­trolle im Eingangsbereich ging.

»Speichel?«

»Rost.«

»Rost?«

»Ja.«

»Wie in …?« Bellman drückte auf den Knopf des Fahrstuhls.

»Keine Ahnung«, sagte Katrine und trat neben ihn.

»Und ihr wisst noch immer nicht, wie der Täter in ihre Wohnung gekommen ist?«

»Nein. Das Schloss ist mit einem Dietrich nicht zu öffnen, und weder Türen noch Fenster wurden aufgebrochen. Und an die Möglichkeit, dass sie ihn reingelassen hat, glauben wir nicht.«

»Vielleicht hatte er einen Schlüssel.«

»Die Wohnungstüren und die Haustür unten sind mit dem gleichen Systemschlüssel zu öffnen. Laut Hausverwaltung gab es für Elise Hermansens Wohnung nur einen Schlüssel. Und den hatte sie selbst. Berntsen und Wyller haben mit zwei jungen Männern gesprochen, die im Hausflur waren, als sie kam, und die sind sich beide sicher, dass sie die Tür selbst aufgeschlossen hat und nicht von jemandem, der schon in ihrer Wohnung war, hereingelassen wurde.«

»Verstehe. Könnte ihr Mörder den Schlüssel irgendwie nachgemacht haben?«

»Dafür müsste er sich den Originalschlüssel beschafft und dann noch einen Schlüsseldienst gefunden haben, der Systemschlüssel ohne schriftliche Genehmigung der Hausverwaltung nachmacht. Das ist ziemlich unwahrscheinlich.«

»Okay, aber das war eigentlich gar nicht das, worüber ich mit dir reden wollte …« Die Fahrstuhltüren öffneten sich vor ihnen, und zwei Kommissare traten heraus. Sie hörten augenblicklich auf zu lachen, als sie den Polizeipräsidenten sahen.

»Es geht um Truls«, sagte Bellman, nachdem er ihr höflich den Vortritt gelassen hatte. »Also Berntsen.«

»Ja?«, erwiderte Katrine und nahm den schwachen Duft seines Rasierwassers wahr. Sie hatte eigentlich gedacht, dass die meisten Männer sich nach dem Rasieren nicht mehr mit alkoho­lischen Lösungen pflegten. Bjørn hatte sich elektrisch rasiert, ohne eine Pflege zu benutzen, und die, die sie danach gehabt hatte … nun, in einigen Fällen wäre Katrine da schweres Parfüm sicher lieber gewesen als der natürliche Geruch dieser Männer.

»Wie fügt er sich ein?«

»Berntsen? Gut.«

Sie standen nebeneinander, den Blick auf die Fahrstuhltür gerichtet, aber aus den Augenwinkeln nahm sie sein schiefes Lächeln wahr.

»Gut?«, wiederholte er nach kurzem Schweigen.

»Berntsen erledigt die Aufgaben, die wir ihm geben.«

»Und die sind nicht sonderlich anspruchsvoll, nehme ich mal an.«

Katrine zuckte mit den Schultern. »Er hat keine Erfahrung als Ermittler, arbeitet aber als Kommissar im größten Morddezernat des Landes, sieht man mal vom Kriminalamt ab. Klar, dass man da nicht immer in der ersten Reihe mitmischt, oder?«