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Allein auf weiter Flur, konnte sich Sydow von dem Grab, dessen Kopfende ein schmuckloses Holzkreuz zierte, immer noch nicht losreißen. Ob er wollte oder nicht, begannen die Gedanken um seine Jugend und um das Herrenhaus am Ruppiner See zu kreisen. Mehr als alles andere hatte sich ein Ereignis in sein Gedächtnis eingegraben, an das er hier, auf dem menschenverlassenen Kirchhof, erinnert wurde. Es war die Szene, in der seine Mutter die Koffer gepackt und ihre Familie Hals über Kopf verlassen hatte. Ein Tag wie heute, wolkenverhangen, grau und entschieden zu kühl. Sydow wischte sich die Regentropfen von der Stirn. An den Grund für das Zerwürfnis zwischen seinen Eltern konnte er sich zwar nicht mehr erinnern. Eines aber war ihm bis zum heutigen Tag im Gedächtnis geblieben. Nämlich die Geräusche, welche Mutters Schritte auf dem Kiesweg vor dem Haus verursacht hatten.

Er würde sie sein Lebtag nicht vergessen.

Geräusche, so schien es, welche mit denen zu seiner Rechten identisch waren.

»Patriot ohne Wenn und Aber. Und seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.«

»Tatsächlich?« Sydow konnte es partout nicht ausstehen, wenn man ihn mit seinem Vater verglich. Nun gut, rein äußerlich betrachtet mochte dies vielleicht der Fall sein. Er war über 1,90 Meter groß, hatte eine scharf geschnittene Nase, spröde und zumeist rissige Lippen und weit auseinanderliegende blaue Augen, die von spärlichen Brauen überwölbt wurden. Und darüber hinaus, quasi als Familienerbstück, ein Paar hohe Wangenknochen nebst einem markanten Kinn. So viel zum Thema Ähnlichkeit. Das immer noch volle und ungebärdige Haar war dagegen ein Erbstück seiner Mutter und ein Teil seiner Physiognomie, auf den man in seinem Alter stolz sein konnte. Nicht ganz so stolz war er dagegen auf seinen Bauchansatz, den er nach Kräften zu kaschieren versuchte und den Kochkünsten seiner Frau zu verdanken hatte. Tja, der Geist war eben willig, das Fleisch dagegen so schwach, dass Vorsicht – und so wenig Schreibtischarbeit wie möglich – das Gebot der Stunde war. »Und wenn, was ist denn so schlimm daran?«

»Nichts, Thomas, nichts.«

Noch etwas, das ihm auf die Nerven ging und geeignet war, ihn in Nullkommanichts auf die Palme zu bringen. ›Thomas‹, mit britischer Aussprache und Kensington-Akzent. Herablassend und voll unterschwelliger Ironie. Dazu ein Hut, wie man ihn vermutlich in Ascot, und ein Kleid, das man bei einer Gartenparty oder auf den Zuschauerrängen eines Polospieles trug. Und natürlich den Stock, den die alte Dame trotz ihrer 73 Jahre nicht benötigte. Adel verpflichtete, Aristokrat blieb nun einmal Aristokrat. Von dieser Maxime war die unerwartete Besucherin zeitlebens nicht abgewichen. »Dann ist ja alles in Ordnung.«

»Findest du? Wenn man dich anschaut, könnte man meinen, morgen gehe die Welt unter.«

»Wer weiß.« In der Erkenntnis, den Tatsachen ins Auge sehen zu müssen, stieß Sydow einen Stoßseufzer aus und wandte sich seiner Gesprächspartnerin zu, welche mehrere Meter entfernt von ihm auf der Stelle verharrte und ihn im Stil eines Kolonialoffiziers musterte. Fehlt nur noch der Prägestock!, durchfuhr es den Kriminalhauptkommissar, der sich Mühe gab, ein Minimum an Wiedersehensfreude zu heucheln. »Wie dem auch sei: Willkommen in Berlin. Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs, Mutter?«

5

Berlin-Charlottenburg, Schlosspark │ 13:40 h

»Jetzt machen Sie mal halblang, Herr Michalke! Eins nach dem andern.« Anders als sein Kollege Tom Sydow, dem schon lange der Kragen geplatzt wäre, war Kriminalkommissar Eduard Krokowski ein besonnener Mensch. Der 34-jährige Lübecker, Idealbild des deutschen Beamten, stand im Ruf, zurückhaltend, freundlich und korrekt zu sein. Attribute, von denen Sydow nur träumen konnte. Leider war ›Kroko‹, wie er im Präsidium genannt wurde, aber auch ein Paragrafenreiter und die bevorzugte Zielscheibe für Kollegen, die es mit Dienstvorschriften nicht so genau nahmen. Am Respekt, den man ihm zollte, änderte dies jedoch nichts. Krokowski ließ sich nicht für dumm verkaufen, weder von Kollegen noch während seiner Ermittlungen. Schon mancher Zeitgenosse, vor allem einer ohne weiße Weste, hatte das zu spüren bekommen. Eine Falschaussage, Finte oder offenkundige Lüge, und die vermeintliche Witzfigur ging zum Angriff über. Dann hatte der Betreffende nichts zu lachen.

Momentan, so schien es, war dies jedoch nicht vonnöten. Der Schlossgärtner, einziger Zeuge eines Mordes, den man mit Fug und Recht als Hinrichtung bezeichnen konnte, war ein redseliger Mensch. In einem Ausmaß, dass Krokowskis Geduld auf eine harte Probe gestellt wurde. »Also ehrlich, Herr Kommissar, so wat hab ick in meene janze Leben …«

»Wie gesagt: Eins nach dem andern, Herr Michalke. Und bitte so, dass man Sie versteht.«

»Hochdeutsch? Icke? Da hamse sich aber den Falschen rausjesucht.«

Krokowski, Sprachpurist aus Überzeugung, neigte das sorgsam gescheitelte Haupt und stierte wie ein Oberlehrer hinter seiner Hornbrille hervor. »Das kann doch nicht so schwer sein, Herr Michalke. Je schneller wir beide wieder ins Trockene kommen, desto besser, oder?« Der Schlossgärtner, ein ungehobelter Gnom jenseits der 60, der einen verschmutzten blauen Overall trug, unentwegt an den Nägeln herumkaute und zu allem Überfluss auch noch nach Doppelkorn roch, murmelte etwas, das Krokowski nicht verstand. Doch war er klug genug, es für sich zu behalten.

Stattdessen machte er sich daran, seine Fingernägel zu begutachten und blitzte den Kripobeamten scheel an. Krokowski tat so, als bemerke er dies nicht, verharrte schweigend unter seinem Regenschirm und ließ den Blick über die von Buchsbaumkegeln begrenzte Rasenfläche schweifen, welche sich in unmittelbarer Nähe des Luisenmausoleums befand.

»Weil Sie’s sind, Herr Kommissar.«

»Na also, geht doch.« Als Zeichen seiner Gunst brach Krokowski sein Schweigen und sah den Gnom mit hochgezogener Braue an. »Also: Was genau haben Sie gesehen? Beziehungsweise gehört?«

»Zwee … äh … zwei Schüsse, Herr Kommissar.«

»Wann genau?«, fragte Krokowski, drückte Michalke den Regenschirm in die Hand und straffte sein Jackett. Gerade Letzteres, beziehungsweise sein Muster, war zur Quelle zahlreicher Scherze der Kollegen geworden. Ein Krokowski ohne Karo-Jackett, Fliege und bis oben hin zugeknöpftes Hemd hätte das gesamte Präsidium in Aufregung versetzt und Anlass zu wilden Spekulationen gegeben. Allein schon deshalb sah der Kriminalkommissar, der seine Rolle als Exot genoss, von Experimenten auf dem Gebiet der Dienstkleidung ab. »Aber nur, wenn Sie präzise Angaben machen können.«

»Kann ick, Herr Kriminaler, kann ick.«

»Heißt?«

»Es war zwee … es war genau zwei nach zwölf, als ich die Schüsse gehört habe. Ich weiß das deshalb so genau, weil ich kurz davor auf die Uhr geschaut habe. Ab halb eins ist nämlich Mittagspause.«

»Daraus, fürchte ich, wird so schnell nichts werden!«, erwiderte Krokowski brüsk und ließ sich den Regenschirm wieder aushändigen. Dann fragte er: »Womit waren Sie zum Tatzeitpunkt beschäftigt?«

»Mit Heckenschneiden – da drüben.« Michalke deutete nach links. »Verdammt anstrengend, das kann ich Ihnen …«

»Zweifellos. Und dann?«

»Na, wat denn wohl! Ich hab die Heckenschere weggeschmissen und bin wie ’ne gesengte Sau hierher gepest. Und dann hab ich auch schon diesen Kerl gesehen – da vorne, mit einer Knarre in der Hand.«