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Noch 30 Meter. Dann war Zvika[5] an der Reihe.

Verdammt. Aharoni wurde aschfahl. Die linke Hand des Mannes steckte in der Manteltasche. Bloßer Zufall oder Angewohnheit?

Oder ein Indiz, dass er eine Waffe bei sich trug?

Einerlei. Er musste Zvika warnen. »Pass auf, die linke Hand!«, raunte er ihm zu und umklammerte das Steuer, während ihm der Schweiß aus den Poren quoll. »Vielleicht hat er eine Waffe!«

Das polnische Muskelpaket, von Haus aus Sprengstoffexperte und Ex-Mitglied der Haganah[6], gab keine Antwort. Dafür war es jetzt zu spät. Der Mittfünfziger, auf den er es abgesehen hatte, war nur noch wenige Meter von der am Straßenrand geparkten Limousine entfernt. Alles war gesagt, immer und immer wieder durchgesprochen, mit einem Höchstmaß an Akribie geplant worden. Jetzt, um fünf nach acht argentinischer Zeit, würden die Dinge ihren Lauf nehmen. Und der Gerechtigkeit, so es sie gab, zum Sieg verhelfen.

Aharoni hielt den Atem an. Dann startete er den Motor. Kurz darauf tauchte linker Hand ein Schatten auf. Und dann, als er die Fahrertür bereits passiert hatte, richtete sich Zvika auf, wandte sich nach rechts und trat dem Mann in den Weg. »Momentito, Señor!«, herrschte er ihn mit unverkennbar fremdländischem Zungenschlag an.

Der Mann blieb wie angewurzelt stehen.

Im gleichen Moment sprang Malchin auf ihn zu.

*

Er hatte es kommen sehen. All die Jahre, in denen er auf der Flucht gewesen war, hatte er es kommen sehen. Auf die Idee, dass es ihn ausgerechnet hier treffen würde, war er dennoch nie gekommen. Ausgerechnet hier, nur einen Katzensprung von seiner Haustür entfernt. Und ausgerechnet heute, nachdem seine Frau wieder einmal Kassandra[7] gespielt und ihn beschworen hatte, nicht zur Arbeit zu gehen.

Er hatte ihre Warnungen in den Wind geschlagen. Disziplin ging ihm nun einmal über alles. Ohne sie, die Kardinaltugend schlechthin, konnte man es im Leben zu nichts bringen. Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Ordnungsliebe und Gehorsam natürlich nicht zu vergessen. Tugenden, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen und die hier, fern der Heimat, bedeutsamer denn je geworden waren.

›Meine Ehre heißt Treue.‹[8] Damit war alles gesagt. Auf ihn, den ehemaligen SS-Obersturmbannführer, war stets Verlass gewesen. Gerade dann, wenn es ans Eingemachte ging. ›Rasche Auffassungsgabe und Gewissenhaftigkeit haben seine Arbeit ausgezeichnet.‹[9] Besser hätte man es nicht ausdrücken können. Ohne ihn, den Mann der Tat, wären sie damals glatt aufgeschmissen gewesen. Ob in Österreich, der Tschechei, Ungarn oder Berlin: Er hatte Tabula rasa gemacht, binnen eines halben Jahres 50.000 Wiener Juden in die Emigration getrieben, die Prager das Fürchten gelehrt, den Ungarn die Drecksarbeit abgenommen, indem er 200.000 Volksschädlinge deportieren ließ. Überhaupt – die Deportationen! Ohne seinen rastlosen Einsatz, seine Zähigkeit, die Unerbittlichkeit, mit der er den Willen des Führers in die Tat umgesetzt hatte, wäre die Endlösung ein glatter Reinfall geworden. Daran hegte er keinen Zweifel. Schade nur, dass aus den geplanten elf Millionen nichts geworden und lediglich sechs Millionen liquidiert worden waren.

Schwamm drüber, seine Schuld war es nicht gewesen. Er hatte sein Möglichstes getan, mit der Reichsbahn um jeden gottverdammten Güterwaggon gefeilscht. Er hatte gedroht, geschuftet, geackert. Rund um die Uhr. Und er hatte sich, im Gegensatz zu manch anderem Parteigenossen, an Ort und Stelle von der Effektivität seiner Maßnahmen überzeugt. Hatte den Schneid besessen, die Vernichtungslager zu inspizieren. Dass er Haltung bewahrt hatte, verstand sich von selbst, es sei denn, die Transporte kamen ins Stocken. Dann war er aus der Haut gefahren, hatte die Verantwortlichen zusammengestaucht, dass ihnen Hören und Sehen verging. Hasste er doch nichts mehr als Schlamperei, Unpünktlichkeit und mangelnde Zuverlässigkeit.

Aus diesem, und nur aus diesem Grund hatte er nicht auf seine Frau gehört. Getreu der Maxime, dass Pflichterfüllung an erster Stelle kam. Wie immer war er morgens aus dem Haus gegangen, in den Bus gestiegen und ins Daimler-Benz-Werk nach Gonzalez Catan kutschiert, wo er seit geraumer Zeit als Schweißer arbeitete. Nicht der erste Job hier drüben, sondern einer von vielen. Hydrologe[10], Inhaber einer Wäscherei und eines Textilgeschäftes, Transportchef und zu guter Letzt Verwalter einer Kaninchenfarm. Soweit die Stationen der letzten Jahre. Richtig Fuß fassen können hatte er nirgendwo, weshalb ihm nichts anderes übrig blieb, als die zweistündige Fahrt zur Arbeit auf sich zu nehmen. Genug Zeit, um über alles nachzudenken, um das, was ihm von Himmler eingebrockt worden war, Revue passieren zu lassen.

Anlass zur Reue? Weit gefehlt. Schließlich war Krieg gewesen und er hatte Befehle auszuführen gehabt. Daran gab es nichts zu rütteln. Überdies war er nur Obersturmbannführer gewesen, einer von 1.159 gleichrangigen Kameraden, um es präzise auszudrücken. Nun gut, in seiner Eigenschaft als Judenkommissar hatte er viel Macht gehabt, weit mehr als die Parteibonzen ahnten. Debattiert, Entscheidungen getroffen und sie an Subalterne wie ihn weitergegeben hatten jedoch andere. Er war lediglich Teil eines Räderwerkes gewesen, nur ein Glied in der Befehlskette, deren Aufgabe es war, den Willen des Führers in die Tat umzusetzen. Das allein hatte gezählt, sonst nichts.

»Momentito, Señor!« Ganz so einfach, wie es sich dieser Kleiderschrank gedacht hatte, würde er es seinen Häschern nicht machen. Dafür steckte noch zu viel Ehrgefühl in ihm. Er, Adolf Eichmann, SS-Obersturmbannführer, Organisator der Endlösung und Schreibtischtäter par excellence, stieß einen halblauten Schrei aus, riss die Arme in die Höhe und versuchte, den Angreifer abzuschütteln. Vergebens. Der Hüne ließ ihn nicht entkommen, stürzte sich auf ihn und riss ihn zu Boden. In seiner Not wollte er um Hilfe rufen, doch ehe es dazu kam, landete er im Straßengraben, unfähig, sich dem Griff des Unbekannten zu entziehen.

Er hatte ausgespielt, für immer. Spätestens dann, als sich ein weiterer Angreifer auf ihn stürzte und ihn unter Mitwirkung des Kraftprotzes auf den Rücksitz des schwarz lackierten Buick bugsierte, musste Adolf Eichmann alias Ricardo Klement erkennen, dass er in eine Falle getappt war. Eine Falle, aus der er sich nie mehr würde befreien können.

Weder heute, noch morgen, noch während der zwei Jahre und drei Wochen, die er noch zu leben hatte.

2

Buenos Aires/Argentinien, Haus im Stadtteil Kilmes [Codename ›Tira‹ (Palast)] │ 21:15 h

Erste Befragung von Adolf Eichmann durch Zvi Aharoni:

»Wie heißen Sie?«

»Ricardo Klement.«

»Wie hießen Sie davor?«

»Otto Heninger.«

»Wie groß sind Sie?«

»1,77 Meter.«

»Welche Schuhgröße haben Sie?«

»42.«

»Welche Kleidungsgröße?«

»44.«

»Wie lautete Ihre Mitgliedsnummer in der NSDAP?«

»899.895.«

»Wie lautete Ihre Nummer in der SS?«

»43.326.«

»Geburtsdatum?«

»19. März 1906.«

»Geburtsort?«

»Solingen.«

»Wie war Ihr Name bei der Geburt?«

Stille. Darauf die Worte:

»Adolf Eichmann.«

Dichtung und Wahrheit

»Ich habe der Knesset[11] mitzuteilen, dass vor einiger Zeit israelische Sicherheitskräfte einen der größten Naziverbrecher aufgespürt haben: Adolf Eichmann, der zusammen mit anderen Nazigrößen verantwortlich ist für das, was diese die Endlösung des Judenproblems genannt haben, das heißt, die Vernichtung von sechs Millionen Juden. Adolf Eichmann ist bereits in Haft und wird in Kürze nach dem Gesetz aus dem Jahr 1950 zur Verfolgung von NS-Verbrechern vor Gericht gestellt werden.«

(Erklärung des israelischen Ministerpräsidenten David Ben-Gurion vor der Knesset, abgegeben am 23.5.1960)