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›Die traurige Wahrheit ist, dass Eichmann von einem blinden Mann entdeckt wurde, und dass der Mossad mehr als zwei Jahre benötigte, seine Geschichte überhaupt ernst zu nehmen und selbst initiativ zu werden.‹

(Aus: Zvi Aharoni/Wilhelm Dietl, Der Jäger. Operation Eichmann: Was wirklich geschah, Stuttgart 1996, S. 126 f.)

Zwei Jahre später

›Israel musste förmlich dazu gedrängt werden, Eichmann zu fangen.‹

(Aus: Uki Goñi, Odessa. Die wahre Geschichte, Berlin/Hamburg 2006, S. 294)

Erstes Kapitel

(Berlin, Donnerstag, 31. Mai 1962)

3

Berlin-Charlottenburg, Schlosspark │ 12:02 h

Der Tag, an dem Morells Rendezvous mit dem Tod stattfand, begann mit einem vertrauten Ritual. Der 52-jährige Boulevardreporter, müde, verkatert und nicht gerade erpicht auf Arbeit, suchte Halt an der Bettkante und verfluchte den Tag, an dem er zum ersten Mal Cognac getrunken hatte. Dann aber, der Einsicht zum Trotz, stieß er ein fatalistisches Seufzen aus und tastete nach dem Flakon, der stets griffbereit auf seinem Nachttisch stand. Nur ein Schluck!, schwor er sich, und nur vom Feinsten, das war er sich trotz seines Brummschädels schuldig.

Es wurde ein halbes Dutzend daraus.

Rémi Martin Louis XIII. Der Tag konnte beginnen.

Theodor Morell, dunkelhaarig, hager und mittelgroß, war ein Genießer. Cognac, Champagner und Wein aus dem Périgord gingen ihm über alles, Maßanzüge und italienische Opern mit eingeschlossen. Wenn es etwas gab, auf das er nicht verzichten konnte, dann die Premierenbesuche in Mailand, Zürich oder Wien, einerlei, wie tief er in die Tasche greifen musste.

Als ebenso kostspielig und geradezu ruinös hatte sich sein Hang zu Pferdewetten, Kasinos und Damen im reiferen Alter erwiesen, die Theodor, einem Herzensbrecher der alten Schule, nur selten widerstehen konnten. Die Frage, ob er sich dies leisten könne, stellte er sich gar nicht mehr, wohl wissend, dass er über seine Verhältnisse lebte.

Kurz und gut: Um die Annehmlichkeiten, die er sich gönnte, finanzieren zu können, reichte die Tätigkeit bei Berlins größter Boulevardzeitung nicht aus. Das war ihm ein ums andere Mal bewusst geworden. Die logische oder vielmehr fatale Konsequenz bestand darin, dass Morell begonnen hatte, Schulden zu machen. Schulden, die, wie ihm in seltenen Momenten der Reue klar wurde, mittlerweile zu einem fünfstelligen Betrag angewachsen waren.

Theodor Morell, Weltmeister im Ignorieren unbequemer Wahrheiten, focht dies allerdings nicht an. Zu einem Bonvivant, als den er sich verstand, gehörte ein entsprechender Lebensstil. Die Frage, woher das nötige Kleingeld dafür kommen sollte, war dagegen etwas für Spießer und für ihn, den einstigen Starreporter, von untergeordneter Natur. Man musste das Leben genießen, die Dinge nehmen, wie sie kamen, Schwierigkeiten tunlichst aus dem Weg gehen. Und man durfte nicht alles so heiß essen, wie es gekocht wurde.

Dass dieses Credo in Kürze überholt und sein Leben keinen Schuss Pulver wert sein würde, konnte Morell nicht ahnen. Für ihn, den Charmeur und Lebemann, war dies ein Morgen wie jeder andere. Ein Morgen, an dem es galt, den inneren Schweinehund zu überwinden, aufzustehen und sich in Schale zu werfen.

Dies war leichter gesagt als getan, und es bedurfte einer weiteren Dosis Rémi Martin, um Theodor zu animieren, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Im Bad angekommen, warf er einen Blick in den Spiegel und erschrak beim Anblick seines Konterfeis fast zu Tode. Aus dem aufstrebenden Stern am Journalistenhimmel der frühen Dreißiger war ein vor der Zeit gealterter Mann geworden. Ein Salonlöwe in den Fünfzigern, übernächtigt, unrasiert und mit tiefen Falten im Gesicht. Mit einer Fahne, deren Aroma man niemandem, am allerwenigsten seinem Chefredakteur, zumuten konnte.

Nicht willens, sich einen weiteren Rüffel wegen Zuspätkommens einzuhandeln, machte sich Theodor Morell ans Werk, wusch und rasierte sich, putzte die Zähne, verkünstelte sich an seinem Spitzbart und zerkaute mehrere Pfefferminzbonbons. Daraufhin kämmte er sich und beäugte sein Erscheinungsbild.

Erwartungsgemäß fiel dessen erneute Inspektion ungleich günstiger aus. Der Mann, den man dereinst als den ›Schönen Theodor‹ bezeichnet hatte, war wieder da. Na ja, zumindest teilweise. Morell stieß einen leisen Stoßseufzer aus. Das gewellte, nach hinten gekämmte Haar hatte sich zwar gelichtet, die Sorgenfalte auf der Stirn vertieft und der Blick der dunklen Augen leicht getrübt. Die gute Laune war ihm dennoch nicht abhandengekommen, und das war ja wohl das Wichtigste. Jetzt, da die Zeit weit vorangeschritten war, hieß es nur noch, das richtige Duftwasser auszuwählen, das weiße Markenhemd samt Krawatte und dunkelblauem Maßanzug anzuziehen und einen allerletzten Blick in den Spiegel zu werfen. Und sich im Anschluss daran den letzten Schliff in Form eines Seidenschals und eines extravaganten Panamahutes zu geben.

Fertig.

Mozarts ›Ah, tutti contenti!‹[12] vor sich hinsummend, schlenderte Morell zur Tür und verließ die Mansardenwohnung, welche er sich, wie vieles andere, nicht leisten konnte.

Er sollte sie nie wieder betreten.

Das Gleiche galt für das fünfstöckige Mietshaus in der Nähe des KaDeWe[13], das soeben die Pforten öffnete. Morell ließ die Haustür ins Schloss fallen, bog nach rechts, warf der Verkäuferin des Textilgeschäftes im Parterre eine Kusshand zu und begab sich auf den Weg in die Redaktion. Der Himmel war wolkenverhangen, die Tauentzienstraße kaum bevölkert und die Stimmung, welche das morgendliche Panorama vermittelte, überaus trist. Ein Grund mehr für Morell, einen weiteren Schluck aus seinem Flakon zu sich zu nehmen, in aller Ruhe die Schaufenster zu begutachten und mit einem Bekannten, der ihm zufällig über den Weg lief, ein paar Worte zu wechseln. Erst dann, deutlich später als sonst, setzte er seinen Weg fort, überquerte die Nürnberger Straße und strebte der Gedächtniskirche zu.

Wie immer musste er dabei an jene Nacht im November 1943 denken, in der er dem Tod nur knapp entronnen war. Am Tag nach Totensonntag war über Charlottenburg, und nicht nur dort, die Hölle hereingebrochen. Knapp 700 britische Flugzeuge vom Typ Halifax und Lancaster hatten ihre tödliche Fracht abgeworfen und zwischen Messegelände und Alexanderplatz eine Schneise der Verwüstung hinterlassen. Damals wie heute war der Himmel bewölkt gewesen, dann aber, im denkbar ungünstigsten Moment, über dem Zielgebiet aufgerissen. 2.500 Tonnen Bomben waren herabgeregnet, über die Hälfte davon Brandbomben, die das Versteck, in dem Theodor Zuflucht gesucht hatte, nur um Haaresbreite verfehlten. An allen Ecken und Enden hatte es gebrannt, am schlimmsten im Zooviertel, und, schlimmer noch, in unmittelbarer Nähe der Gedächtniskirche. Die Kirche selbst wurde schwer beschädigt, das Dach und zwei der vier Türme, welche den Hauptturm flankierten, waren eingestürzt. Auf diesen Anblick war Morell, als er sich einen Tag später ins Freie gewagt hatte, nicht gefasst gewesen. Nie würde er diesen Moment vergessen, und obwohl dies fast zwei Jahrzehnte her war, empfand der 52-Jährige einen Stich im Herzen.

Doch wäre er nicht der gewesen, für den er sich hielt, wenn sein Gemütszustand von Dauer gewesen wäre. Getreu der Devise, man müsse stets nach vorn blicken, setzte er seinen Weg fort, überflog die Schaukästen vor dem ›Gloria‹[14] und fragte sich, was die Leute an Heimatschnulzen, ›Freddy und dem Lied der Südsee‹ sowie an Western mit John Wayne begeisterte. Darüber nachzudenken erschien ihm indes die Mühe nicht wert, weshalb er sich eine Schachtel Zigarillos kaufte und den Weg zu den am Kurfürstendamm gelegenen Redaktionsräumen einschlug. Für die Werbeplakate, Reklametafeln und Transparente, an denen er vorüberflanierte, hatte er nur ein müdes Lächeln übrig. ›Mach mal Pause … trink Coca-Cola.‹ Nichts lieber als das. ›Peter Stuyvesant: der Duft der großen weiten Welt.‹ Schön wär’s. Morell stieß ein verächtliches Schnauben aus. Werbung, Werbung und abermals Werbung. So weit das Auge reichte. Da durfte die Dame mit dem weißen Kleid nicht fehlen. Reinwaschen, so schien es, war das Gebot der Stunde. Alles, was man dazu benötigte, war der sprichwörtliche Persil-Schein, und schon stand der Karriere nichts mehr im Weg. Egal, was und wie viel man sich im Dritten Reich geleistet hatte. Mit einem Wort: zum Davonlaufen. Wer wie er über zwei Jahre im Untergrund verbracht hatte, den widerte diese Form der Vergangenheitsbewältigung an. Ein Grund, weshalb er laufend aneckte, zum Beispiel bei seinem Chefredakteur, der ihn lieber heute als morgen losgeworden wäre.