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Und siehe da: Als könne er es nicht abwarten, ihn zur Minna zu machen, wartete dieser bereits auf ihn. Morell war ihm überlegen, sowohl fachlich als auch intellektuell, und so ließ der Redaktionsleiter keine Gelegenheit aus, ihn herumzuschikanieren oder Aufträge zu erteilen, die genauso gut von einem Volontär erledigt werden konnten. Seit dem Tag, als Springer seine Meute auf Berlin losgelassen hatte, waren Leute wie er fehl am Platz und zu Laufburschen degradiert worden. Berichte im Lokalteil, aber nur, wenn sich niemand Besseres fand, Interviews mit Künstlern, die unter ›ferner liefen‹ rangierten, und vor allem Kontaktaufnahme zu Zeitgenossen, die ihren Mitmenschen etwas anhängen wollten. Das war der Stoff, zu dem seine Träume verkommen waren.

Der heutige Tag, wie nicht anders zu erwarten, bildete da keine Ausnahme. Da ihm nicht danach war, eine Auseinandersetzung vom Zaun zu brechen, gab Morell seinem ironischen Impuls nicht nach, ließ die Standpauke wegen Zuspätkommens über sich ergehen und ertappte sich bei dem Gedanken, wie schön es doch wäre, jetzt im ›Kranzler‹[15] zu sitzen, die Druck-Erzeugnisse der Konkurrenz zu studieren und die Arbeitswütigen dieser Welt vorbeihasten zu lassen. Die Friedfertigkeit, welche er an den Tag legte, brachte seinen Chefredakteur jedoch erst recht in Rage, und was als Tadel begann, artete in einen Rundumschlag aus. Morell ließ auch dies geschehen, dachte sich seinen Teil und sehnte sich danach, einen Auftrag zu bekommen, der ihn für den Rest des Tages von der Redaktion fernhalten würde.

Sein Flehen wurde erhört. »Also: halb zwölf im Schlossgarten. Treffpunkt Mausoleum«, schnarrte der Chefredakteur, ein drahtiger Maulheld Anfang 30, der sein Sohn hätte sein können, worauf sich Morell das Salutieren gerade noch verkneifen konnte. »Und anschließend wieder hierher zum Rapport!«

Der Boulevardreporter seufzte. Schon wieder so ein Treffen, bei dem er einem obskuren Informanten – oder, laut vorliegenden Informationen, einer Informantin – auf den Zahn fühlen und mit leeren Händen zurückkehren würde. Und als Entschädigung die Möglichkeit, auf einen Sprung im ›Kranzler‹ vorbeizuschauen, den ersten Chardonnay des Tages zu genießen und in aller Ruhe Lachsschnitten mit Kaviar zu genießen. Nicht schlecht! Bis halb zwölf war noch reichlich Zeit, und die galt es auf standesgemäße Art zu überbrücken. Was die sogenannte Informantin betraf, würde er es kurz machen, im Anschluss an sein Rendezvous noch eine Weile lustwandeln und erst spätnachmittags, wenn überhaupt, wieder hier eintrudeln.

Die Miene des Boulevardreporters hellte sich auf. Dies würde ein Tag werden, wie er ihn liebte. Ein Tag, an dem er es sich gut gehen lassen würde.

*

Die Hochstimmung, in der sich Morell befand, war jedoch nicht von Dauer. Kaum war er vor dem Schloss angekommen, meldete sich bereits der Skeptiker in ihm. Eine Informantin, Mutmaßungen seines Chefredakteurs zufolge um die 40, die vorgab, das Staatsgeheimnis schlechthin in Händen zu halten. Und die, seltsam genug, Wert darauf legte, es ihm, und nur ihm, anzuvertrauen. Das roch nicht nur nach Reinfall, das stank regelrecht zum Himmel.

Reinfälle, insofern das Wort ausreichte, um das Fazit seiner konspirativen Zusammenkünfte zu umschreiben, hatte Morell in Hülle und Fülle erlebt. Die Schauplätze hatten zwar gewechselt, viel herausgekommen war dabei jedoch nicht. Neu und in der Tat ungewöhnlich war indes der Ort, an den er bestellt worden war. Das Mausoleum im Schlosspark war der Hort des Preußentums schlechthin, und er fragte sich, welche Überraschung ihn dort erwarten würde.

Was blieb, war die Hoffnung, auch einmal einen großen Coup zu landen. Spürsinn allein reichte dazu jedoch nicht aus. Man brauchte auch Glück. Eine Menge Glück. Von der Art, wie es dieser Fotograf aus Hamburg im vergangenen August, zwei Tage nach dem Bau der Mauer, gehabt hatte. Morell konnte es immer noch nicht fassen. Steht dieser Volontär doch tatsächlich an der Ecke Bernauer/Ruppiner Straße. Rein zufällig. Einfach so. Eine Kamera Marke DDR in der Hand. Das Objektiv auf einen Grenzsoldaten gerichtet, der eine Fluppe nach der anderen qualmt. Und dann, urplötzlich, lässt der DDR-Grenzer seine Kippe fallen, nimmt Anlauf und springt über den Stacheldraht. Wirft im Sprung seine MP 41 weg. Und dieser Anfänger hält drauf und drückt ab. Genau im richtigen Moment. Ein Foto, das um die Welt gegangen war. Genau wie dasjenige von Flüchtenden, die unter Stacheldrahtrollen hindurch in die Freiheit hechten. Oder von Hausbewohnern, die aus den oberen Stockwerken entlang der Bernauer Straße springen. Oder von den Panzern, die am Checkpoint Charlie in Stellung gegangen waren. Hier die Amis, dort die Russen, nur wenige Meter voneinander entfernt. Aus diesem Stoff wurden Schlagzeilen gemacht. Das war es, was die Leute wollten. Oder vielleicht auch brauchten. Geschichten wie jene in der Bild-Zeitung, datiert vom 25. Januar. Aufmacher, mit denen die Konkurrenz ihre Auflage steigerte. Exklusiv, von zwei Ostberliner Brüdern verkauft. Einschließlich der Fotoreportage über den Tunnel, den sie gebuddelt hatten und durch den sie mit 26 Mitwissern in den Westen getürmt waren. ›Wieder Massenflucht nach West-Berlin geglückt. 28 kamen auf einen Schlag!‹ Morell stöhnte gequält auf. An die Standpauke, die ihm sein Chefredakteur noch am gleichen Tag gehalten hatte, konnte er sich noch gut erinnern. Es war der Beginn einer innigen Abneigung gewesen. Einer Antipathie, deren Intensität kaum noch zu steigern war.

Es half alles nichts, spornte sich Morell an, während er auf die Uhr schaute und das Tor des Charlottenburger Schlosses durchschritt. Man musste jede sich bietende Chance nutzen. Getreu dem Sprichwort, dass jeder, sogar ein versoffener Salonlöwe wie er, einmal ein Korn finden würde.

Die Frage war nur, wann. Und vor allem wo.

Erschrocken über den eigenen Sarkasmus, überquerte der Boulevardreporter den Ehrenhof und steuerte auf den Eingang zu, vorbei am Standbild des Großen Kurfürsten, für das er nur ein müdes Lächeln übrig hatte. Heldenposen, Preußen-Nostalgie und damit Hand in Hand gehende Phrasen von Pflichterfüllung und Disziplin waren ihm ein Gräuel, und das nicht erst seit der Zeit, die er im Untergrund verbracht hatte. Wesentlich mehr konnte er da schon den Freuden des Lebens abgewinnen, weshalb er beschloss, den Charmeur zu geben und ein wenig mit der Kassiererin, einer alten Bekannten, herumzuschäkern. Balsam für seine Seele wie auch diejenige der vollschlanken Blondine, welche den Zenit ihrer Anziehungskraft längst überschritten hatte.

Dann aber, Schlag halb zwölf, fand das Süßholzraspeln ein abruptes Ende. Theodor hauchte ein sehnsuchtsvolles »Adieu«, trat hinaus in den Park und folgte der Hauptachse, nicht ohne einen Blick auf die Prunkvasen, Buchsbaumkegel, Zierbeete und das Fontänenbecken zu werfen, welches den Mittelpunkt des Gartens bildete. An allen Ecken und Enden blühten Blumen, und der Duft von Hyazinthen und Narzissen stieg ihm in die Nase. Das Wetter indes ließ zu wünschen übrig, und wie er so dahineilte, zogen von Norden her dunkle Wolken auf. Der Park selbst war nahezu menschenleer, was das Unbehagen, welches ihn beschlich, noch verstärkte.