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Anzeichen von Reue? Schuldgefühle? Gewissensbisse gar? Mitnichten. Er, Adolf Eichmann, mittlerweile 56 Jahre alter Massenmörder, war sich selbst treu geblieben. Vor Gericht hatte er sein Bedauern geäußert, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Schuld an seinem und dem Schicksal all jener, die er auf dem Gewissen hatte, waren andere. Allen voran Hitler, Himmler, Heydrich und wie sie sonst noch alle hießen. Er selbst war nur ein kleines Glied in der Kette gewesen. Das ausführende Organ sozusagen. Von daher war er frei von jeglicher Schuld und, wie er sich selbst gebetsmühlenartig vorsagte, frei von den Einflüsterungen jenes Feiglings, der sich Gewissen schimpfte.

Wenn da nur nicht die vergangenen drei Nächte gewesen wären. Eichmanns Mundwinkel zuckte, und ein resignierter Ausdruck stahl sich in sein Gesicht. Die von Herzrasen, wirren Träumen und Schweißausbrüchen begleiteten Stunden, in denen er sich auf seiner Pritsche gewälzt und den Tag, an dem er seinen Häschern ins Netz gegangen war, zum abertausendsten Mal verflucht hatte. Warum nur war er so sorglos gewesen, so fahrlässig und dilettantisch, wie man es von ihm, dem peniblen Organisator, niemals erwartet hätte? Warum hatte er sich von diesen Judenbastarden, die keinen Schuss Pulver wert waren, düpieren lassen? Und wieso hatte er darauf verzichtet, eine Waffe oder, besser noch, eine Zyankalikapsel bei sich zu tragen? Ein Biss, und es wäre ausgestanden gewesen. Für immer.

So aber hieß es warten. Die Stunden waren zu Tagen, die Tage zu nicht enden wollenden Wochen und Monaten geworden. Wecken, Frühstück, Verhöre, Hofgang, Schreibarbeit, Zubettgehen. Immer der gleiche, quälende, das Nervenkostüm strapazierende Trott. Eichmanns Miene verfinsterte sich. Ein Trost freilich würde ihm bleiben. Auch dann, wenn sie ihn in ein paar Minuten aufknüpfen würden. Bevor sie ihn, Eichmann, geschnappt hatten, war es ihm gelungen, sechs Millionen von diesen Bastarden ins Jenseits zu befördern. Eine Bilanz, auf die er stolz sein konnte.

Wenn, ja wenn nur diese Hirngespinste nicht gewesen wären. Keine Albträume, die kannte er nur vom Hörensagen. Begonnen hatte es vor drei Tagen, wie aus heiterem Himmel. Mitten in der Nacht war er plötzlich in die Höhe geschreckt, nicht, weil ihm etwas auf der Seele gelastet oder weil er Furcht oder gar Panik verspürt hätte. Angst vor dem Sterben – doch nicht er! Kurzum, wie er so auf seiner Pritsche saß, waren diese Gestalten aufgetaucht, verhärmt, ausgezehrt und mit starrem, ins Leere gerichtetem Blick. Männer, Frauen, Kinder, Greise. Wie lange die an den Gitterstäben entlang und wieder auf den Korridor hinausführende Prozession gedauert hatte, wusste er nicht. Er wusste nur, dass er sie kannte, persönlich, aus eigenem Erleben. Er kannte sie aus dem Palais ›Rothschild‹ in Wien, er kannte sie aus der Schillstraße im Prager Stadtteil Střešovice und nicht zuletzt aus der Kurfürstenstraße in Berlin. Er kannte sie persönlich, wusste genau, wie er mit ihnen umgesprungen war. Und er wusste, welches Schicksal ihnen bevorgestanden, was aus ihnen geworden, wie mit ihren Überresten verfahren worden war. Kein Zweifel, er war der Herr über Tod und Leben gewesen, das Zünglein an der Waage, der personifizierte Schrecken, der Mann, vor dem sie alle Reißaus genommen hatten.

Eichmann reckte das glatt rasierte Kinn. Das bloße Gerücht, er werde ein KZ inspizieren, hatte genügt, um sämtliche Insassen, das Wachpersonal eingeschlossen, in Angst und Schrecken zu versetzen. Das war in Auschwitz nicht anders gewesen als in Treblinka, in Majdanek kaum anders als in Theresienstadt. Dort, im Vorzeigelager, war die Furcht vor ihm am größten gewesen, dort hatte es ihn immer wieder hingezogen, insgesamt vier Mal, sogar kurz vor der Kapitulation. Dann aber war er untergetaucht, volle fünf Jahre lang, bis zu seiner Flucht nach Argentinien. Anders als erhofft war diese jedoch nicht geheim geblieben, wobei es ihm nach wie vor schleierhaft war, wie ihm seine Widersacher auf die Spur gekommen waren.

Zufall oder nicht, der Galgen war ihm sicher. Ein, zwei Minuten, und der Henker würde ihm seine Aufwartung machen. Und er, Adolf Eichmann, würde alles tun, um sich die Furcht vor dem Wiedersehen mit seinen Opfern nicht anmerken zu lassen.

*

Er wollte Schächter werden, kein Schlächter, und er verwünschte den Tag, an dem er, Schalom Nagar, zum Bewacher von Eichmann auserkoren worden war. Ein halbes Jahr war er viermal pro Tag in dessen Zelle gesessen, drei endlos währende Stunden lang. Wer der Mann war, den er keine Sekunde aus den Augen lassen durfte, war ihm lange nicht so recht klar gewesen, bis zu dem Tag, an dem er zum ersten Mal seinen Prozess verfolgt hatte. Von da an hatte er ihn genauestens studiert, hatte er jede seiner Bewegungen verfolgt. Er hatte ihm zugesehen, wenn er seine Memoiren schrieb, wenn er einschlief, wenn er las oder auf seinem Bett lag und an die Decke starrte. Und natürlich hatte er auch mit ihm gesprochen. Nur das Nötigste, versteht sich, nur dann, wenn Eichmann ihn um etwas bat. An sich war dies recht selten der Fall gewesen, und so hatte Nagar, 1949 nach Israel geflüchteter Sohn eines Jemeniten, die Zeit damit verbracht, Eichmanns Gesichtszüge zu studieren. Dieser war seinem Blick zumeist ausgewichen, ob zufällig oder absichtlich, konnte er nicht sagen. Sicher war indes, dass er nie, aber auch wirklich nie, eine Gefühlsregung im Gesicht dieses Verbrechers entdeckt hatte.

Und so war er ihm gegenübergesessen, auf der Suche nach dem Mann, den alle Welt für ein Monster hielt. Hatte ihm das Essen vorgesetzt, von dem er zuvor hatte kosten müssen, ihn zur Dusche oder Toilette geführt. Die Angst, dass Eichmann vergiftet werden oder er sich etwas antun könnte, war gewaltig gewesen. So groß, dass Nagar, der 26-jährige Ex-Fallschirmjäger, von zwei weiteren Kollegen beobachtet wurde, einer davon hinter einer vergitterten Metalltür, ein weiterer im Raum dahinter postiert. Geschehen war freilich nichts, bis zum heutigen Tag. Ein Tag, der in die Geschichte eingehen würde.

Rein äußerlich die Ruhe selbst, sah Schalom, der Mann mit dem wohltönenden Beinamen, auf die Uhr. Kurz vor zwölf. Und damit Zeit, ans Werk zu gehen. Der Pastor und der Arzt, auf den die Gefängnisleitung nicht hatte verzichten wollen, warteten bestimmt schon auf ihn. Nagars Körper straffte sich, und er betrachtete sein Gesicht im Spiegel neben der Tür. Die Tage, welche er Auge in Auge mit Eichmann zugebracht hatte, waren vorüber. Grund genug aufzuatmen und das, was zu tun übrig blieb, zu erledigen. Auf dass sich die Geschichte niemals wiederholen möge.

Kurz darauf, exakt zwei Minuten nach Mitternacht, war es schließlich so weit. Alles, was Nagar zu tun übrig blieb, war, Eichmann den Strick um den Hals zu legen und den Hebel in unmittelbarer Nähe der Falltür, welche den Eichmann-Trakt mit dem Erdgeschoss verband, auf Geheiß des Gefängnisdirektors nach unten zu drücken.

Und zu hoffen, dass er die folgende Szene vergessen würde.

*

»Ich hoffe, dass ihr mir bald folgen werdet.« Die Worte waren ihm einfach herausgerutscht, und wäre der Hass, dem sie entsprangen, nicht gewesen, hätte er die Fassade aufrechterhalten können. Im Angesicht des Todes, selbst dann, wenn ihm der Strick um den Hals gelegt wurde, hatte er ein Beispiel geben wollen. Weniger, um die Umstehenden zu provozieren, sondern um jenen, die ihn in die Knie zwingen wollten, die Vergeblichkeit ihrer Mühe vor Augen zu führen. Einer wie er war den Hyänen, die ihn umlagerten, haushoch überlegen. Das war so und würde immer so bleiben.

Nur keine Reue, kein Anzeichen von Schwäche, keine Gefühlsduselei. Eichmann schnappte nach Luft. Nur gut, dass der Wein, um den er gebeten und dem er im Übermaß zugesprochen hatte, allmählich Wirkung zeigte. Jetzt galt es, aufrecht in den Tod zu gehen, oder, wie er in einem Anflug von Sarkasmus konstatierte, so zu tun. Um jeden Preis. Es galt, die Angst, welche ihn wie ein schleichendes Gift durchströmte, zu bezähmen. Und sei es, indem er Phrasen benutzte, an die selbst er nicht mehr glaubte: »Es lebe Deutschland. Es lebe Argentinien. Es lebe Österreich. Das sind die drei Länder, mit denen ich am engsten verbunden war. Ich werde sie nicht vergessen. Ich grüße meine Frau, meine Familie, meine Freunde. Ich hatte den Gesetzen des Krieges und meiner Fahne zu gehorchen. Ich bin bereit.«