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Am Karpfenteich, ohne Blick für die Putten, Vasen und die idyllische Szenerie, bog Theodor schließlich nach links. Der Wind, bislang eher lau, frischte merklich auf, und als er die Tannenallee erreichte, an deren Ende sich das Mausoleum befand, spürte er die ersten Tropfen auf seiner Haut. Für Morell ein Grund mehr, seinen Schritt zu beschleunigen und die wenigen Meter, welche ihn von seinem Ziel trennten, im Laufschritt zurückzulegen.

Als er dort eintraf, legte der Boulevardreporter eine Verschnaufpause ein. Das Mausoleum, ein dorischer Tempel im Kleinformat, und die dazu gehörige Säulenfront aus Findlingsgranit boten ein tristes Bild. Ein Eindruck, der von der Inschrift über dem Portal noch verstärkt wurde. Morell runzelte die Stirn. Ein Alpha, das Christusmonogramm und ein Omega, der erste und letzte Buchstabe des griechischen Alphabets.[16] Im Grunde nichts, womit man ihn, den ehemaligen Jünger von Karl Marx, hinterm Ofen hervorlocken konnte. Jeder Mensch, auch er, musste einmal sterben.

Die Frage war lediglich, wann.

Und an welchem Ort.

Überzeugt, dass es sich bei Letzterem nicht um das über 150 Jahre alte Mausoleum handeln würde, ließ der Boulevardreporter das Herumphilosophieren sein und erklomm die Stufen, die zum Portal führten. Dort angekommen, wandte er sich noch einmal um. Stille, mit Ausnahme gelegentlicher Windstöße durch nichts unterbrochene Stille. Der Geruch von Tannennadeln, verblühendem Ginster und feuchtwarmer Erde.

Friedhofsgeruch.

Und von der Frau, die er zu treffen hoffte, nichts zu sehen.

Auch nicht, als er sich im Inneren des Mausoleums umschaute, die Gedächtnishalle betrat und einen Blick auf die Grabmonumente warf. Wie jedermann bekannt, war dies der Ort, an dem Luise, Königin von Preußen und Todfeindin Napoleons, ihr Mann, Friedrich Wilhelm III., sowie der gemeinsame Sohn, nachfolgenden Generationen als Kaiser Wilhelm I. bekannt, nebst Gattin Augusta begraben waren.

Beim Anblick des Sarkophags aus Carraramarmor, auf dem die früh verstorbene Königin wie eine Schlafende dargestellt war, konnte sich Morell eines beklemmenden Gefühls nicht erwehren. Er, der diesem Ort nichts abgewinnen konnte, sah sich einmal mehr um und ließ den Atem, den er unbewusst angehalten hatte, entweichen. Wider Willen und sonstige Gewohnheiten hatte er sich von der düsteren Stimmung und dem Halbdunkel ringsum anstecken lassen. Ausgerechnet er, der von der Gestapo[17] durch halb Berlin gehetzt worden war. Morell schüttelte unwirsch den Kopf. Allmählich sah er wirklich Gespenster, und ihm war, als warte er bereits seit Stunden hier.

Um der Melancholie, die ihn beschlich, Herr zu werden, warf Morell einen Blick auf die Uhr. Fünf vor zwölf, allerhand. Zehn Minuten würde er der Aufschneiderin, um die es sich wahrscheinlich handelte, noch geben. Und keine Sekunde mehr. Danach würde er zum Rückzug blasen. Und, wie nicht anders zu erwarten, eine geharnischte Strafpredigt über sich ergehen lassen müssen.

Ein Schicksal, das ihm jedoch erspart bleiben würde.

»Theodor Morell, wie er leibt und lebt.« Die Stimme im Ohr, die vom Portal ins Innere des Mausoleums drang, fuhr der Journalist herum. Ringsum herrschte Dämmerlicht, und so konnte er das Gesicht der Unbekannten kaum erkennen. »Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe.«

»Nicht der Rede wert.«

»Freut mich zu hören, Herr Morell«, antwortete die vermeintliche Informantin, nachdem sie am oberen Ende der Treppe angekommen und ins Innere der Gedächtnishalle getreten war. »Ich bin sicher, Sie werden es nicht bereuen.«

Morell hatte Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. Mit Preußens Luise, wie sie auf zahllosen Porträts abgebildet war, hatte die mittelgroße, zur Korpulenz neigende und altbacken angezogene Frau Mitte 40 genauso viel zu tun wie er mit einem Kartäusermönch[18]. Luise, im Teenageralter verheiratet und mit 21 Königin, war eine gefeierte Schönheit, voller Liebreiz und mit einem gehörigen Maß an Vitalität und Lebensfreude gesegnet gewesen. Und somit das genaue Gegenteil der Frau, deren Hand er soeben schüttelte. Die Frau, wie Theodor enttäuscht feststellte, reichte ihm gerade einmal bis zur Schulter, trug einen altmodischen Hut, eine Strickjacke und eine Bluse mit gestärktem Kragen. Sie hatte das Haar streng gescheitelt, am Hinterkopf zu einem Knoten geflochten und aus Gründen, die Morell nicht nachvollziehen konnte, keine Schminke aufgetragen. Vor allem der Rock, grau, gouvernantenhaft und abgetragen, würde wohl kaum für Aufsehen sorgen, und das traf, wie Theodor enttäuscht feststellte, auch auf ihr Aussehen und die dunkel gefärbten Haare zu. Die Frau sah bieder, verhärmt und beinahe schon alt aus, viel älter, als sie vermutlich war.

Um eine Enttäuschung reicher, ließ sich Theodor nichts anmerken und kam umgehend zum Thema. »Kommt drauf an, was Sie mir zu offerieren haben!«, antwortete er, vergaß aber nicht, den Zusatz »gnädige Frau« zu verwenden. Der Charmeur in ihm war nicht totzukriegen, auch wenn das Gespräch ein geschäftliches war.

»Sagen wir’s einmal so: Dass Sie mein Angebot abschlagen werden, kann ich mir nicht vorstellen.«

»Und warum gerade ich?«, wollte Morell wissen und suchte den Blick seiner Gesprächspartnerin. »Reporter gibt es in Berlin genug.«

»Aber keinen wie Sie.«

Empfänglich für Komplimente, fiel es Theodor schwer, seine Verlegenheit zu kaschieren. »Ich … ich wüsste nicht, durch welche Heldentaten ich in letzter Zeit von mir reden …«, begann er, wurde jedoch sanft, aber bestimmt unterbrochen.

»Ich denke schon, dass Sie von sich reden gemacht haben, Herr Morell!«, lautete die Antwort, mit Betonung auf seinem Familiennamen. »Wenn nicht heute, dann vor 30 Jahren.«

»Darf man fragen, mit wem ich die Ehre habe?«, erwiderte Morell, der nichts mehr hasste, als um den heißen Brei herumzureden. Das war zwar alles andere als galant, sparte jedoch Zeit.

»Gestatten – Nettelbeck!«, versetzte die Frau und verzog dabei keine Miene. »Jahrgang 18, geboren in Berlin.« Und dann, mit der Andeutung eines Lächelns: »Und Sie?«

»Ich auch.«

»Wo genau?«

»In Wedding!«, schnappte Morell und ergänzte spitz: »Am 2. April 1910, falls Sie es genau wissen wollen.«

Sein Gegenüber, das eine unerschütterliche Ruhe ausstrahlte, schien sich auch an dieser Antwort nicht zu stören. »In Wedding, ja gibt’s denn so was.«

»Genauer gesagt im Jüdischen Krankenhaus!«, karrte Morell verstimmt nach, worauf sich prompt der Kavalier alter Schule meldete, der ihm riet, von Grobheiten Abstand zu nehmen. »Gewohnt haben wir in der Wins-straße, Bezirk Prenzlauer Berg.«

»Wir?«

»Meine Eltern ich. Ach ja, wenn wir gerade dabei sind: Nach der Volksschule kam ich in die Jüdische Mittelschule.«

»Ich weiß.«

Morell stutzte. Anschließend betrachtete er seine Gesprächspartnerin genauer. Und ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie, gemessen an seinem ersten Eindruck, nicht gänzlich unattraktiv war. Insbesondere ihre Augen, groß, walnussfarben und von zarten Wimpern überwölbt, hatten es ihm angetan. Grund genug, sein Urteil zu revidieren. »Und woher?«

»Winsstraße 63, hab ich recht?« Die Informantin, die offenbar nicht daran dachte, die ihr zugewiesene Rolle zu erfüllen, zog die Brauen hoch und sah ihn mit kindlich-naivem Lächeln an. »Direkt über den … na, wie hieß die Familie doch gleich?«

»Lenuweit«, brach es aus Theodor, der den Mund fast nicht zubekam, mit nur mühsam kaschierter Verblüffung hervor. »Eine von insgesamt sechs Familien im Haus, drei jüdische und … und …« Morells Wortschwall brach mitten im Satz ab. Schuld daran war nicht etwa mangelnde Eloquenz, sondern die Tatsache, dass er mit unliebsamen Reminiszenzen konfrontiert wurde. An die Zeit vor 1945, eine Periode der Demütigungen, Drangsal und abgrundtiefer Barbarei, dachte er, wenn überhaupt, nur mit Schrecken zurück, und es fiel ihm nicht leicht, schmerzhafte Erinnerungen wachzurufen. »Und dann war da noch eine Familie mit drei Kindern«, fuhr er fort, als seine Verblüffung abgeklungen und sich die Gespenster, welche ihn zuweilen heimsuchten, verflüchtigt hatten. »Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, es waren zwei Jungs und … und … da bleibt einem doch glatt die Spucke weg … Luise