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»Wurde aber auch Zeit, Herr Rosenzweig

»Was treibt dich denn hierher?« Der Boulevardreporter errötete. »Tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe, bis …«

»Kein Grund, mit sich zu hadern!«, nahm ihm Luise Nettelbeck das Wort aus dem Mund. »Schließlich warst du viel älter als ich. Acht Jahre, eine halbe Ewigkeit! Macht nichts, Theodor. Wer gibt sich schon mit 15-Jährigen ab, wenn einem die Damenwelt zu Füßen liegt. Das wäre wirklich zu viel verlangt.«

»Und wie hast du rausgekriegt, dass … dass …«

»Dass deine Artikel unter einem Pseudonym veröffentlicht wurden, meinst du? Per Zufall. Unter tätiger Mithilfe eines Bekannten.« Luise Nettelbeck konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Dein Pech, dass er als Schriftsetzer beim ›Vorwärts‹ gearbeitet und alles brühwarm ausgeplaudert hat. Man stelle sich vor: Der attraktive junge Herr von nebenan führt ein Doppelleben – wie aufregend!«

»So, findest du.« Theodor Morell alias David Rosenzweig verschlug es die Sprache. ›Doppelleben‹ – kein schlechter Ausdruck für die Zeit, in der er als Buchhalter im Kaufhaus Wertheim[19] gearbeitet und seine journalistischen Ambitionen vor dem gestrengen Herrn Papa verheimlicht hatte. Wusste er doch nur zu gut, dass der pflichtbewusste, stockpreußische und patriotisch gesinnte Zweigstellenleiter der Deutschen Bank am Spittelmarkt dies nie und nimmer gut geheißen und ihm die Hölle heißgemacht hätte, wenn er ihm auf die Schliche gekommen wäre. »Merkwürdig, obwohl ich schon über 20 war, habe ich wahnsinnige Manschetten vor Vater gehabt.«

»Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen, David.«

»Belassen wir es lieber bei Theodor«, wies der Boulevardreporter seine Gesprächspartnerin zurecht. »Den David Rosenzweig haben sie mir gründlich ausgetrieben. Ein Glück, dass meinen Eltern das Schlimmste erspart geblieben ist.«

»Da hast du recht.«

Überwältigt von seinen Erinnerungen, wandte sich Morell rasch ab und ließ die Handflächen auf dem Rand des Marmorsarkophages ruhen, unter dem sich die Ruhestätte von Friedrich Wilhelm III. befand. ›Glück‹ – noch so ein Ausdruck, der den Nagel auf den Kopf zu treffen schien. Vater, Ehrenmitglied im Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten, war zwar relativ spät, genauer gesagt 1937, entlassen worden. An dem Schicksal, das ihm beschieden war, hatte dies jedoch nichts geändert. Nur wenige Monate später war der nierenkranke Bankier gestorben, knapp eineinhalb Jahre vor seiner Mutter, die dem Krebs, der ihr Knochenmark zerfraß, hilflos ausgeliefert gewesen war.

»Und du – was geschah mit dir?«

»Mit mir?« Morell lachte desillusioniert auf. »Nun, kurz nach Kriegsbeginn flatterte mir ein Brief ins Haus. Ich möge mich schleunigst in die ›Reichszentrale für jüdische Auswanderung‹ begeben, hieß es darin. Du ahnst, was man mit mir vorhatte? Genau. Die Herren in der Kurfürstenstraße wollten mich loswerden. Deportieren. Allen voran ein gewisser Eichmann, damals noch Sturmbannführer, der es sich nicht nehmen ließ, mich persönlich ins Gebet zu nehmen. Eins musste ihm der Neid lassen: Der Mann hat etwas von seinem Handwerk verstanden. Zuckerbrot und Peitsche, Drohgebärden und Versprechungen. Damit hat er versucht, mich kleinzukriegen.« Morells Miene nahm einen grimmigen Ausdruck an. »Kurzum: Meine Karriere konnte ich mir abschminken. Stattdessen verfrachtete man mich in ein Lager, in dem man auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitet wurde. Pech, dass es kurz nach meinem Eintreffen aufgelöst wurde.«

»Und dann?«

»Tja, danach hieß es Wege schottern, Schienen verlegen, Abflussleitungen reparieren. Tiefer als ich konnte man wirklich nicht sinken.«

»Und wenn schon – Hauptsache, du hast überlebt.«

»Weißt du was, Luise? Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, wenn ich mir eine Kugel durch den Kopf gejagt hätte. Handlangerdienste, Schwerstarbeit für 16 Pfennig die Stunde, Hilfskoch in einem jüdischen Waisenhaus, Totengräber, und dann, als Krönung des Ganzen, sage und schreibe zwei Jahre im Untergrund, will heißen in einer Gartenlaube – so was musst du erst mal verkraften. Von den Scheußlichkeiten, die bei Kriegsende publik geworden sind, gar nicht zu reden.«

»Hauptsache, du hast es überstanden, David.«

Im Begriff, seiner Informantin zu widersprechen, besann sich Morell eines Besseren, stieß sich von der Sarkophagkante ab und sah sie über die Schulter hinweg an. »Apropos Karriere – wie ist es dir seit damals ergangen, Luise?«

»Vater und Mutter haben sich 1942 getrennt.«

»Weshalb?«

»Gert und Hans, meine beiden Brüder, sind kurz nach Kriegsbeginn gefallen. Der eine bei einem Tieffliegerangriff an der Westfront, der andere in Polen. Mein Vater war fix und fertig, ein gebrochener Mann.«

»Und deine Mutter?«

»Die auch. Aber nicht so sehr wie Vater. Der hing von da an nur noch an der Flasche. Tja, irgendwann wurde es ihr zu bunt. Auf gut Deutsch: Sie ist abgehauen, und ich auch. Nach Bayern, zurück in die Heimat. Gerade rechtzeitig, bevor es in Berlin zur Sache ging.«

»Hauptsache, du hast es überstanden, Luise!«, echote Morell, breitete die Arme aus und blickte sich theatralisch um. »Der ideale Ort, um Erinnerungen aufzufrischen, nicht wahr?«

Die Angesprochene rang sich ein Lächeln ab. »Ich fürchte, da muss ich dich enttäuschen, mein lieber …«

»Theo, schlicht und ergreifend Theo.« Die Arme vor der Brust verschränkt, ließ Morell den Kopf nach vorn sacken. »Wie gesagt – David Rosenzweig existiert nicht mehr.« Rasch fügte er hinzu: »Reden wir lieber über dich, Luise. Wie ist es dir seither ergangen?«

»Ich habe Karriere gemacht!«, spottete Luise Nettelbeck. »Was denkst denn du! Höhere Handelsschule, Tippse, Übersiedelung nach Bayern, Trümmerfrau, Serviererin in einem amerikanischen Offizierskasino und …«

»Und?«, bohrte Morell, dem die Unsicherheit in der Stimme seiner Bekannten nicht entging. »Wo bist du geendet?«

»Willst du das wirklich wissen, Theo?«

»Klar.«

»Na schön.« Die 44-Jährige holte tief Luft und sagte: »In der Zentrale des BND in Pullach. Als Vorzimmerdame.«

Morell pfiff überrascht durch die Zähne. »Donnerwetter!«, flüsterte er, im Zweifel, ob es klug war, das Gespräch fortzuführen. »Mir scheint, als hättest du Karriere gemacht.«

»Das schon, aber nicht so problemlos wie manch anderer.« Nicht in der Stimmung für launige Bemerkungen, nahm Luise Nettelbeck ihre Handtasche von der Schulter, öffnete sie und zog einen weißen Umschlag hervor, den sie Morell mit nachdenklicher Miene offerierte. »Für dich, Theo. Ich nehme an, das wird dich interessieren.«

Morell zögerte. Dann griff er zu.

»Apropos Karriere«, ergriff die Frau, die jede seiner Bewegungen verfolgte, erneut das Wort. »Du glaubst gar nicht, wer alles beim BND die Leiter hinaufgefallen ist. Ehemalige Mitglieder des Reichssicherheitshauptamtes, verdiente Parteigenossen, hochrangige Offiziere der SS. Und was für den BND gilt, gilt natürlich auch für das BKA[20] und den Polizeiapparat. Schon gewusst, dass ein ehemaliges SS-Mitglied zum Stellvertreter des BKA-Präsidenten ernannt worden ist? Und dass, vorsichtig geschätzt, knapp 50 Mitglieder des Totenkopfordens für die Behörde tätig sind? Nein? Oder dass sich der BND nicht zu schade war, die Dienste hochrangiger Nazis in Anspruch zu nehmen? So zum Beispiel diejenigen eines gewissen Alois Brunner[21], der als Dank für seine Handlangerdienste von der griechischen Fahndungsliste gestrichen wurde? Da staunst du, was? Glaubt man den Herren von der CIA[22], handelt es sich bei jedem zehnten Mitarbeiter des BND um einen alten Kameraden aus den Reihen der Gestapo, SS, SA oder des SD[23]. Allen voran der erste BND-Präsident, Ex-Generalmajor Reinhard Gehlen, ehemals Leiter der ›Abteilung fremde Heere Ost‹ des deutschen Generalstabes. Aufgabe: Ausspionieren des Gegners, unter besonderer Berücksichtigung der Sowjetunion. Ein Mann ganz nach dem Geschmack der Amerikaner. Grund genug, ihn und eine Reihe hochrangiger Offiziere für sich arbeiten zu lassen. Getreu der Devise: ›Der Feind meines Feindes ist mein Freund.‹ Klug eingefädelt, Herr Gehlen. Das macht Ihnen so schnell keiner nach. Im richtigen Moment die Fronten wechseln, das ist die Kunst!« Längst nicht mehr so beherrscht wie zuvor, ließ Morells ehemalige Verehrerin ihrem Groll freien Lauf. »Verstehst du, was ich damit sagen will, Theo? Die Handlanger von einst sind verdammt gut über den Winter gekommen. Wo man auch hinsieht, nichts als Ex-Nazis, die es geschafft haben, wieder in Amt und Würden zu gelangen. Du glaubst gar nicht, wie mich das anwidert!« Luise Nettelbeck rang nach Luft, ließ einige Sekunden verstreichen und fragte: »Na, habe ich dir zu viel versprochen?«