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Der Boulevardreporter gab keine Antwort. Stattdessen betrachtete er den Inhalt des Kuverts, das er aus der Hand seiner Gesprächspartnerin in Empfang genommen hatte. Auf den ersten Blick nichts Weltbewegendes, nur eine beschriftete Karteikarte. Namen, Daten, mit Schreibmaschine getippte Notizen. Kein Grund zur Aufregung, möchte man meinen.

Doch dem war nicht so. Das Dokument in seiner Hand war Sprengstoff pur, und obwohl er gelernt hatte, sich zu beherrschen, begann Morells rechte Hand zu zittern. »Standartenführer Eichmann befindet sich nicht in Ägypten, sondern hält sich unter dem Decknamen Clemens[24] in Argentinien auf. Die Adresse von E. ist beim Chefredakteur der deutschen Zeitung in Argentinien ›Der Weg‹ bekannt.« Um zu begreifen, was hier stand, musste Morell seine gesamte Fantasie aufbieten. Und nicht nur das. Er musste aufpassen, dass er nicht die Beherrschung verlor, damit die Wut, welche ihn packte, nicht die Oberhand gewann.

Kaum imstande, klar zu denken, zwang sich Morell zur Ruhe. Dass Eichmann sich nach Argentinien abgesetzt und bis zu seiner Entführung dort gelebt hatte, war eine Sache. Schließlich war der Gerechtigkeit Genüge getan, der Völkermord, an dem er beteiligt gewesen war, nicht ungesühnt geblieben. Die Tatsache, dass dies volle 15 Jahre gedauert hatte, ließ dagegen einen schlimmen Verdacht aufkommen. Einen Verdacht, der am heutigen Tage bestätigt worden war.

21. Juni 1952. Da stand es, schwarz auf weiß. Der Aktenvermerk war vor knapp zehn Jahren gemacht worden. Aschfahl im Gesicht, hatte Morell Mühe, dem Würgen in seiner Kehle Herr zu werden. Kein Zweifeclass="underline" Hier handelte es sich nicht etwa um einen Tippfehler. Die übrigen Datumsangaben, allesamt aus dem gleichen Jahr, waren Beweis genug.

Der Boulevardreporter stöhnte auf. Da war sie nun, die Story, auf die er jahrelang gewartet hatte. Ein Aufmacher der Güteklasse A, Pfahl im Fleisch all derjenigen, die geglaubt hatten, ein perfides, an Menschenverachtung nicht zu überbietendes Spiel treiben zu können. Mit welchem Motiv, lag auf der Hand. Nur ja nicht die Friedhofsruhe stören, nur ja keine Reminiszenzen an eine Zeit wecken, an die niemand, am allerwenigsten ein Mann vom Schlage Gehlens, erinnert werden wollte. Die Strippenzieher von einst waren wieder wer, und wenn sie etwas einte, dann der Wunsch, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Besser ein Schreibtischtäter, der in Argentinien sein Dasein fristete, als ein SS-Obersturmbannführer, der auspacken und die Mitglieder des Eichmann-Syndikats mit sich in den Abgrund reißen würde. Von Mitwissern bei der CIA und Diensten, die mit ihr zusammenarbeiteten, gar nicht zu reden.

Morells Miene verfinsterte sich. Und was war mit den Opfern, mit all jenen, die seiner Willkür hilflos ausgeliefert gewesen waren? Nun, die würde man ohnehin nicht mehr lebendig machen können. Ein Grund mehr, möglichst rasch zur Tagesordnung überzugehen.

»Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, Luise?«, fragte Morell und sah durch das offene Portal in den Park hinaus. Inzwischen regnete es in Strömen, und er fragte sich, wie lange er hier wohl würde ausharren müssen. »Wenn das rauskommt, kannst du dein Testament …«

»Ich will, dass es herauskommt, Theo, sonst stünde ich nicht hier.«

»Heißt das, du …«

»Das heißt, ich beabsichtige, dir die Karteikarte zu überlassen. Zum Nulltarif

Morell glaubte, er habe sich verhört. »Wie bitte?«, rief er aus und drehte sich auf dem Absatz um. »Du willst, dass ich sie behalte – einfach so?«

Ein sibyllinisches Lächeln im Gesicht, ließ die Angesprochene den Verschluss ihrer Handtasche einrasten, hängte sie um und schlenderte auf Morell zu. »Einfach so!«, wiederholte sie, nachdem sich ihr Lächeln wieder verflüchtigt hatte. »Mit der Bitte, sinnvollen Gebrauch davon zu machen.«

»Weißt du eigentlich, wie viel Geld dieser Fetzen wert ist?«, wollte Morell wissen und wedelte mit der Karteikarte vor dem Gesicht herum, um sie anschließend in der Bruttasche verschwinden zu lassen. »Ein Anruf bei der Konkurrenz, und du hättest ausgesorgt.«

»Mir geht es nicht ums Geld, Theodor.«

»Sondern?«

»Erinnerst du dich an das Mädchen, das zwei Häuser weiter gewohnt hat?«

»Ein Mädchen in deinem Alter?«

»Mit anderen Worten: Du erinnerst dich nicht!«, resümierte Luise Nettelbeck, worauf das Lächeln, an dem Morell zusehends Gefallen fand, erneut aufblitzte. »Nicht so schlimm, Herr Morell – oder soll ich nicht doch lieber Rosenzweig sagen?«

»Such es dir aus, Luise.«

»Einerlei – sie hieß Miriam Friedländer, war zwei Jahre älter, im Gegensatz zu mir bildhübsch und meine beste Freundin. Du kannst dir denken, was jetzt kommt? Kurz nach dem Beginn des Russlandfeldzuges ist sie mit ihrer gesamten Familie Richtung Osten deportiert worden. Wohin, wusste kein Mensch. Und weißt du, was das Schlimmste dabei war, Theo? Sie hat geahnt, was auf sie zukommen würde. Ich weiß gar nicht, wie oft ich auf sie eingeredet, wie sehr ich gedrängt und vor möglichen Konsequenzen gewarnt habe. Vergebens. ›Das werden sie uns nicht antun!‹, hat sie immer wieder gesagt. Und ob sie ihr das angetan haben! Zum Abschied hat sie mir dann rasch ein Dutzend Postkarten gezeigt – allesamt mit meiner Adresse. ›Alle drei Tage werde ich dir schreiben!‹, hat sie mir versichert. ›Mindestens!‹ Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.«

»So wie ihr ist es vielen von uns gegangen.«

»Ich weiß, David. Das Schlimmste sollte indes noch kommen.«

Morell senkte den Kopf und schwieg.

»Vor ein paar Wochen bin ich dem SS-Mann, der die Deportation beaufsichtigt hat, über den Weg gelaufen.«

»Schauplatz: die BND-Zentrale in Pullach.«

Luise Nettelbeck nickte. »Purer Zufall, aber ein Zufall mit Folgen. Von da an, Theo, gab es kein Zurück mehr für mich.«

»Und was wirst du jetzt tun? In Berlin kannst du dich ja wohl nicht mehr blicken … ich meine: Du bist nirgendwo mehr sicher, ist dir das klar?«

»Voll und ganz!«, versicherte die Ex-Sekretärin, warf ihm einen kurzen Blick zu und stieg die Treppe zum Vorraum hinab. Am Portal angekommen, drehte sie sich noch einmal um. »Ich wollte einfach noch mal nach Hause. Ein allerletztes Mal. Schließlich bin ich in Berlin groß geworden.«

Morell öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Der Kloß in seinem Hals saß jedoch so fest, dass er keinen Ton herausbrachte.

»Heute Abend um sechs geht mein Flugzeug. Nach Frankfurt am Main, mit Anschluss nach New York. Dort lebt eine Cousine von mir, bei der ich fürs Erste unterkommen kann. Danach werden wir weitersehen.«

»Auf Wiedersehen, Luise«, brach es aus Morell hervor, obwohl ihm schwante, dass dies ein Abschied für immer sein würde. »Und pass auf dich auf!«

»Du auch, David«, antwortete sein Gegenüber, hob die Hand zum Gruß und wandte sich zum Gehen. »Sieh zu, dass du nicht vollends unter die Räder …«