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Nicht ganz so leicht war ihm dies bei den anderen Punkten gefallen, die sie ihm in den Block diktiert hatte. Zunächst einmal war da die preußische Fahne, von der Tante Lu partout nicht hatte lassen wollen. Allein, Widerstand war wie so oft zwecklos gewesen, und er tröstete sich mit dem Gedanken, dass man die Politik zuweilen Politik sein lassen musste.

Kaum anders war es ihm mit der dritten Bedingung ergangen, die Tante Lu als Bestandteil eines Begräbnisses einer Dame von Stand betrachtete. Der Choral von Leuthen[26] musste erklingen, in voller Länge, versteht sich, untermalt von der Kirchenorgel, deren Klänge Sydow soeben wachrüttelten.

Fast zeitgleich mit dem ›Nun danket alle Gott‹, in das er widerstrebend einstimmte, musste Sydow einen Rippenstoß seiner Frau hinnehmen, die neben ihm in der vordersten Reihe saß. Sydow lächelte verschämt. Lea, seit gerade einmal fünf Tagen 46 und somit drei Jahre jünger als ihr hochgewachsener, rotblonder und beileibe nicht mehr idealgewichtiger Mann, war nicht der Typ, der Drückebergerei durchgehen ließ. Das hätte er eigentlich wissen müssen.

»Kopf hoch, mein Schatz, bald ist es überstanden.« Nach über neun Jahren Ehe mit seiner Jugendliebe, in die er immer noch über beide Ohren verknallt war, hatte er gelernt, die ernst gemeinten von den scherzhaften Rüffeln zu unterscheiden. Eine Erfahrung, die ihm jetzt zugutekam. »Sie war 87, vergiss das nicht.«

Wie konnte er. Tom Sydow nickte und warf einen Blick auf das Schwarz-Weiß-Porträt, welches auf einer Staffelei rechts neben dem Eichenholzsarg stand. Blumen hatte sich Tante Lu verbeten, und so blieb es bei den vier Kandelabern, welche den fahnengeschmückten Sarg flankierten. Alles wirkte schlicht, bescheiden und dezent, genau so, wie es sich das Pendant von Adele Sandrock[27] gewünscht hatte.

Beinahe ebenso schlicht, um nicht zu sagen einfallslos, mutete die 08/15-Predigt des Pfarrers an, wie geschaffen, um Sydows Vorurteile zu bestätigen. Auf die Gefahr, sich einen weiteren Rippenstoß der blonden, attraktiven und zuweilen energischen RIAS-Redakteurin, mit der er verheiratet war, einzuhandeln, hörte er deshalb nur mit einem Ohr hin und blickte sich in einem unbeachteten Moment um. Die Trauernden konnte man an einer Hand abzählen, und wenn er ehrlich war, hatte er die Hälfte davon nie gesehen. Näher bekannt war ihm lediglich Tante Lus Anwalt, mit dem er um halb drei verabredet war, mehrere Mitbewohnerinnen des Seniorenheims, in dem sie gelebt sowie die Stationsschwester, mit der sie die meiste Zeit über zu tun gehabt hatte. Freunde, falls Tante Lu dieses Wort je in den Mund genommen hatte, waren dagegen nicht erschienen, nur ihre knapp 70-jährige Haushälterin, die 30 Jahre lang von ihr herumkommandiert worden war.

Ebenfalls anwesend war darüber hinaus eine Frau Anfang 40, ganz in Schwarz und das Gesicht hinter einer Sonnenbrille verborgen. Sydow wurde das Gefühl nicht los, sie schon einmal gesehen zu haben, drehte jedoch, als sich ihre Blicke trafen, den Kopf wieder nach vorn.

Die Predigt, welche der Pfarrer in Rekordzeit hinter sich gebracht hatte, war zu Ende. Sydow atmete auf und konnte der Versuchung, Gott oder wem auch immer dafür zu danken, nur mit Mühe widerstehen. Vonseiten seiner Frau, die anscheinend Gedanken lesen konnte, trug ihm dies ein anerkennendes Kopfnicken ein. Froh um jede Aufmunterung, rückte Sydow seine Krawatte zurecht, bot Lea den Arm an und beeilte sich, den Sargträgern, die es genauso eilig wie der Pfarrer zu haben schienen, zu folgen.

Dabei wurde ihm bewusst, dass er weder eine Träne vergossen noch sonst irgendwelche Emotionen gezeigt hatte. Er schämte sich dafür, und nicht zu knapp. Warum fiel es ihm so schwer, Gefühle zu zeigen, Lea gegenüber einmal ausgenommen? Das fragte er sich nicht zum ersten Mal und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass dies mit seiner Erziehung zusammenhing. Während seiner Jugend, von der er einen Großteil in Internaten verbracht hatte, war Disziplin oberstes Gebot und die Zurschaustellung von Emotionen ein Ausdruck von Schwäche gewesen. Das war ihm immer wieder eingetrichtert worden, von morgens bis abends, ob auf dem Herrensitz am Ruppiner See, unweit von Wuthenow, auf dem er groß geworden, oder auf der Polizeischule, wo er auf Führer und Vaterland eingeschworen worden war. Zwar war dies nur in unzureichendem Maße gelungen, hatte aber dazu geführt, dass er sich Fremden gegenüber äußerst reserviert, wortkarg und bisweilen schroff verhalten hatte. Und wohl immer noch verhielt. Alles Eigenschaften, die den Letzten aus dem Hause derer von Sydow mit der Verstorbenen, geradezu ein Musterbeispiel an Reserviertheit, verband. Von seinem Humor, ein Erbstück seiner britischen Mutter, gar nicht zu reden.

Sydow seufzte gequält. Zum Glück gab es da noch Lea, die ihm die Flausen, welche er an den Tag legte, nicht durchgehen ließ. Sonst würde er so enden, wie es bei Tante Lu offenbar der Fall gewesen war. Respektiert, mitunter auch gefürchtet, in Ehren gehalten, aber nicht wirklich geliebt. Mit einem Wort: ein Mensch, für den das Wort ›Kompromiss‹ auf gleicher Ebene wie ›Kapitulation‹ rangierte.

»Nach Ihnen, gnädige Frau!« Weshalb er der Unbekannten im aparten schwarzen Kostüm den Vortritt ließ, konnte sich Sydow nicht erklären. Geschehen war jedoch nun einmal geschehen, und so schritt er mit Lea hinter ihr her, trat ins Freie und folgte den Sargträgern, welche den Weg zum frisch ausgehobenen Grab in unmittelbarer Nähe der Friedhofsmauer einschlugen. Die Fremde indes, blond, mit Bubi-Schnitt, gertenschlank und beinahe so groß wie er, wandte sich dagegen dem Ausgang zu. Sydow konnte nichts anders, als ihr hinterherzusehen, was, wie er sehr wohl wusste, weder an ihren Stöckelschuhen, noch an dem sündhaft teuren Kostüm, noch am Hut im Stil der Zwanziger oder an der Art lag, wie sie sich bewegte. Für Sydow, in jüngeren Jahren ein Schwerenöter, gab es außer Lea keine andere Frau, die es wert war, dass man sich näher mit ihr beschäftigte. Trotzdem war da etwas, das seine Neugierde hervorrief, weshalb, war ihm ein Rätsel.

Ein Rätsel der besonderen Art stellte jedoch auch seine Frau Lea dar. Sie, der sonst nichts entging, tat einfach so, als bemerke sie Sydows Unsicherheit und die daraus resultierende Zerstreutheit nicht, hakte sich bei ihm unter und nahm den Platz an der Spitze der Trauergemeinde ein. Sydow ließ es geschehen, in Gedanken immer noch bei der Unbekannten anstatt bei seiner Tante, die in Kürze zur letzten Ruhe gebettet werden würde.

*

Was folgte, war eine Sache von wenigen Minuten und kaum dazu geeignet, Sydows Gemüt aufzuheitern. Um nicht in Trübsal zu verfallen, beobachtete er die Trauergäste und mokierte sich insgeheim über den Nieselregen, der genau dann einsetzte, als sich der Sarg in die Erde senkte. Der Pfarrer, wahrlich kein Redner vor dem Herrn, schien dies als Wink des Himmels zu nehmen, verschärfte das Tempo erneut und entließ die Anwesenden mit den Worten, sie mögen in Frieden von dannen ziehen.

Gerührt von so viel Anteilnahme, verharrte Sydow noch eine Weile am Grab. Das hatte Tante Lu nicht verdient, das hatte niemand verdient, der ein Leben wie sie hinter sich hatte. Der Regen wurde stärker, und wie er so dastand, umgeben von Birken, Buchen, Eiben und Holunder, kam sich Sydow wie der Hauptprotagonist in einer drittklassigen Kinoschnulze vor. »Und was machen wir mit der Flagge, Herr von …?«

»Sydow, ganz einfach Sydow. Geben Sie her.« Sydow kramte sein Portemonnaie hervor, drückte dem Totengräber einen Zehnmarkschein in die Hand und wusste nicht, wohin mit seinem Hut, den er nach kurzem Zögern aufsetzte. Dann nahm er die zusammengefaltete Fahne entgegen und beschloss, sie mit nach Hause zu nehmen. Preußen, in dem seine Tante groß geworden war, war Teil seiner Familiengeschichte. Daran führte kein Weg vorbei, mochte man nun Nostalgiker wie Tante Lu oder Brandt[28]-Anhänger wie ihr aus der Art geschlagener Neffe sein. Jahrhundertelang hatten die Sydows dem Staat gedient, als Offiziere, Richter oder, wie sein Vater, als Diplomat. Oder, wie der Letzte des Hauses, als Polizeibeamter. Das durfte man über all dem Neuen, was die Nachkriegszeit Deutschland bescherte, nicht vergessen. Man musste wissen, woher man kam, sonst wusste man nicht, wohin man gehen sollte.