Выбрать главу

Dessard nickte. »Das war richtig. Ich werde mich vergewissern, dass ihr nichts passiert ist.«

Dessard sah dem Decksteward nach. Es war unvorstellbar, dass jemand einer Frau wie Mme. Temple etwas antun könnte. Der Gedanke allein war eine unglaubliche Beleidigung für sein gallisches Gefühl von Ritterlichkeit. Er setzte seine Uniformmütze auf, warf einen schnellen Blick in den Wandspiegel und ging auf die Tür zu. Das Telefon läutete. Der Oberzahlmeister zögerte und hob dann ab. »Dessard.«

»Claude -« Es war die Stimme des dritten Offiziers. »Um Himmels willen, schicken Sie jemanden mit einem Schrubber in den Kinosaal hinunter, ja? Da sind überall Blutflecke.«

Dessard spürte ein plötzliches Unbehagen in der Magengrube. »Sofort«, versprach er und legte auf. Er schickte einen Steward zum Kinosaal und rief dann den Schiffsarzt an.

»Andre? Claude.« Er versuchte, seine Stimme ungezwungen klingen zu lassen. »Ich würde gern wissen, ob jemand zur ärztlichen Behandlung auf der Station gewesen ist… Nein, nein. Nicht wegen Pillen gegen Seekrankheit. Es müsste jemand sein, der geblutet hat, sogar stark… Ach so, danke.« Dessard legte mit einem zunehmenden Gefühl von Unbehagen auf. Er verließ sein Büro und ging in die Richtung von Jill Temples Appartement. Er war auf halbem Wege, als das nächste außergewöhnliche Ereignis eintrat. Als Dessard das Deck erreichte, spürte er, wie der Rhythmus des Schiffes sich änderte. Er blickte auf den Ozean hinaus und sah, dass sie das Ambrose-Feuerschiff erreicht hatten, die Stelle, wo der Pilot von Bord gehen und das Schiff in die offene See auslaufen würde. Aber statt dessen verlangsamte die Bretagne ihr Tempo und stoppte. Etwas Außergewöhnliches ging vor.

Dessard eilte an die Reling und blickte an der Schiffswand hinunter. Unten hatte das Lotsenboot an der Ladeluke der Bretagne festgemacht, und zwei Matrosen luden Gepäck vom Liner in den Kreuzer um. Während Dessard das Geschehen verfolgte, stieg ein Passagier aus der Ladeluke des Schiffes auf das kleine Boot um. Dessard sah ihn nur ganz flüchtig von hinten, aber er war sicher, dass er sich bei der Identifizierung geirrt haben musste. Es war einfach unmöglich. In der Tat war der Vorgang, dass ein Passagier das Schiff auf diese Weise verließ, so außergewöhnlich, dass den Oberzahlmeister ein Gefühl der Bestürzung beschlich. Er drehte sich um und eilte zu Jill Temples Appartement. Auf sein Klopfen antwortete niemand. Er klopfte wieder, diesmal etwas lauter. »Madame Temple… Hier ist Claude Dessard, der Oberzahlmeister. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«

Keine Antwort. Jetzt schlug Dessards inneres Warnsystem an. Sein Instinkt sagte ihm, dass etwas Entsetzliches bevorstand, und er hatte eine Vorahnung, dass es mit dieser Frau zusammenhing. Eine Folge wilder, abscheulicher Gedanken tanzte durch sein Gehirn. Sie war ermordet oder gekidnappt worden oder -. Er drehte am Türgriff. Die Tür war unverschlossen. Langsam stieß Dessard sie auf. Jill Temple stand am anderen

Ende der Kabine und blickte, den Rücken ihm zugekehrt, aus dem Bullauge. Dessard wollte etwas sagen, aber ihre wie gefroren wirkende, starre Haltung ließ ihn schweigen. Er stand einen Augenblick unbeholfen da, fragte sich, ob er sich still zurückziehen sollte, als die Kabine plötzlich von einem schauerlichen Klageschrei erfüllt wurde, der von einem schmerzgepeinigten Tier herzurühren schien. Hilflos angesichts einer solchen tiefen, geheimen Qual zog Dessard sich zurück und schloss behutsam die Tür hinter sich.

Einen Augenblick blieb Dessard vor der Kabine stehen und lauschte auf die unartikulierten Schreie. Dann drehte er sich tief berührt um und ging zum Kinosaal auf dem Hauptdeck. Ein Steward wischte eine Blutspur vor dem Eingang weg.

Man Dien, dachte Dessard. Was kommt denn noch? Er versuchte, die Tür zum Kinosaal zu öffnen. Sie war unverschlossen. Dessard trat in den großen, modernen Zuschauerraum, in dem sechshundert Passagiere Platz hatten. Der Raum war leer. In einer plötzlichen Eingebung ging er zur Vorführkabine. Die Tür war verschlossen. Nur zwei Personen hatten Schlüssel zu dieser Tür, er und der Vorführer. Dessard schloss mit seinem Schlüssel auf und trat ein. Alles schien normal. Er ging zu den beiden 35-mm-Projektoren in der Kabine hinüber und legte seine Hände darauf.

Einer von ihnen war warm. Incroyable!

Im Mannschaftsquartier auf dem D-Deck fand Dessard den Vorführer, der ihm versicherte, er hätte keine Ahnung, wer den Kinosaal benutzt haben könnte.

Auf dem Rückweg zu seinem Büro nahm er eine Abkürzung durch die Küche. Der Chef hielt ihn wütend an. »Schauen Sie sich das an«, forderte er Dessard auf. »Schauen Sie sich bloß an, was irgend so ein Idiot getan hat!«

Auf einem marmornen Konditortisch stand ein schöner, in sechs Lagen übereinander gebackener Hochzeitskuchen, gekrönt von zarten, aus Zucker gesponnenen Figuren einer Braut und eines Bräutigams.

Jemand hatte der Braut den Kopf zerquetscht.

»In diesem Augenblick«, pflegte Dessard den gebannt lauschenden Gästen in seinem Bistro zu erzählen, »wusste ich, dass etwas Furchtbares geschehen würde.«

ERSTES BUCH

1.

Im Jahre 1919 war Detroit, Michigan, die erfolgreichste Industriestadt der Welt. Der Erste Weltkrieg war zu Ende, und Detroit hatte einen bedeutenden Anteil am Sieg der Alliierten gehabt, indem es sie mit Panzern, LKWs und Flugzeugen belieferte. Nachdem die Bedrohung durch die Deutschen vorüber war, setzten die Automobilfabriken ihre ganze Kraft wieder für den Bau von Personenwagen ein. Bald wurden 4000 Autos pro Tag hergestellt, montiert und verladen. Gelernte und ungelernte Arbeiter kamen aus allen Teilen der Welt, um Arbeit in der Kraftfahrzeugindustrie zu suchen. Italiener, Iren, Deutsche – sie strömten in einer wahren Flut herein.

Unter den Neuankömmlingen waren Paul Templarhaus und seine junge Frau Frieda. Paul war in München Fleischergeselle gewesen. Mit der Mitgift, die er erhielt, als er Frieda heiratete, wanderte er nach New York aus und eröffnete einen Fleischerladen, der schnell in die roten Zahlen kam. Er zog dann nach St. Louis, Boston und schließlich nach Detroit, und in jeder Stadt hatte er den gleichen Misserfolg. In einer Epoche blühenden Geschäftslebens und zunehmenden Reichtums mit einem wachsenden Bedarf an Fleisch brachte es Paul Templarhaus fertig, Geld zu verlieren, wo immer er einen Laden aufmachte. Er war ein guter Fleischer, aber ein hoffnungslos unfähiger Geschäftsmann. In Wirklichkeit war er mehr daran interessiert, Gedichte zu schreiben, als Geld zu verdienen. Er verbrachte Stunden damit, Reime und Metaphern zusammen-zuträumen. Er pflegte sie zu Papier zu bringen und sie an Zeitungen und Magazine zu schicken, die jedoch nie auch nur eines seiner Meisterwerke annahmen. Geld war für Paul unwichtig. Er gab jedermann Kredit, und es sprach sich schnell herum: Wenn man kein Geld hatte und das beste Fleisch haben wollte, ging man zu Paul Templarhaus.

Pauls Frau Frieda war ein recht unansehnliches Geschöpf, das keine Erfahrungen mit Männern gehabt hatte, ehe Paul ihren Weg kreuzte und um sie angehalten hatte – oder vielmehr, wie es sich gehörte, bei ihrem Vater um sie angehalten hatte. Frieda hatte ihren Vater angefleht, Pauls Antrag anzunehmen, aber der alte Herr brauchte gar nicht gedrängt zu werden, hatte er doch verzweifelte Angst gehabt, den Rest seines Lebens mit Frieda verbringen zu müssen. Er hatte sogar die Mitgift erhöht, damit Frieda und ihr Mann Deutschland verlassen und in die Neue Welt gehen konnten.

Frieda hatte sich, wenn auch schüchtern, auf den ersten Blick in ihren Mann verliebt. Sie hatte noch nie einen Dichter gesehen. Paul war hager und wirkte intellektuell, hatte blasse, kurzsichtige Augen und schütteres

Haar, und es dauerte Monate, bis Frieda glauben konnte, dass dieser gutaussehende junge Mann tatsächlich ihr gehörte. Sie machte sich keine Illusionen über ihr eigenes Aussehen. Ihre Figur war plump, hatte die Form einer übergroßen rohen Kartoffel. Das Hübscheste an ihr waren ihre lebhaften enzianfarbenen Augen, aber das übrige Gesicht schien anderen Leuten zu gehören. Ihre Nase war die ihres Großvaters, groß und knollig; ihre Stirn gehörte einem Onkel, hoch und fliehend, und ihr Kinn war das ihres Vaters, eckig und hart. Irgendwo in Friedas Innerem gab es ein schönes junges Mädchen, das Gott aus einer unerklärlichen Laune heraus in diesem Körper gefangen hielt. Die Leute sahen allein das abstoßende Äußere. Nur Paul nicht. Ihr Paul. Es war gut, dass Frieda nie erfuhr, dass ihre Anziehungskraft in ihrer Mitgift lag, die Paul ein Entrinnen von blutigen Rinderhälften und Schweineköpfen ermöglichte. Pauls Traum war es gewesen, ein Geschäft zu betreiben und genug Geld zu verdienen, um sich seiner geliebten Poesie widmen zu können.