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Und auch der junge Mann scheint völlig unbeeindruckt von der katastrophalen Lage. Er ist am Zug. Ruhig nimmt er seinen Turm und rückt ihn um ein Feld nach rechts. Und wieder wird es still in der Runde. Und tatsächlich treten jetzt den erwachsenen Männern die Tränen in die Augen vor Hingebung an dies Genie von einem Spieler. Es ist wie am Ende der Schlacht von Waterloo, als der Kaiser die Leibgarde in das längst verlorene Gefecht schickt: Mit seinem letzten Offizier geht Schwarz erneut zum Angriff über! 

Weiß hat nämlich seinen König auf der ersten Linie auf G1 postiert und drei Bauern auf der zweiten Linie vor ihm stehen, so daß der König eingeklemmt und daher tödlich bedroht stünde, gelänge es Schwarz, wie es dies offenbar vorhat, im nächsten Zug mit seinem Turm auf die erste Linie voranzustoßen.

Nun ist diese Möglichkeit, einen Gegner schachmatt zu setzen, wohl die bekannteste und banalste, fast möchte man sagen, die kindischste aller öglichkeiten im Schachspiel, beruht ihr Erfolg doch allein darauf, daß der Gegner die offenkundige Gefahr nicht erkennt und keine Gegenmaßnahmen einleitet, deren wirksamste darin besteht, die Reihe der Bauern zu öffnen und so dem König Ausweiche zu verschaffen; einen erfahrenen Spieler, ja sogar einen fortgeschrittenen Anfänger mit diesem Taschenspielertrick matt setzen zu wollen ist mehr als frivol. Jedoch das hingerissene Publikum bewundert den Zug des Helden, als sähe es ihn heute zum ersten Mal. Sie schütteln den Kopf vor grenzenlosem Erstaunen. Freilich, sie wissen, daß Weiß jetzt einen kapitalen Fehler machen muß, damit Schwarz zum Erfolg kommt. Aber sie glauben daran. Sie glauben wirklich daran, daß Jean, der Lokalmatador, der sie alle geschlagen hat, der sich nie eine Schwäche erlaubt, daß Jean diesen Anfängerfehler begeht. Und mehr noch: Sie hoffen es. Sie ersehnen es. Sie beten im Innern dafür, inbrünstiglich, daß Jean diesen Fehler begehen möge…

Und Jean überlegt. Wiegt bedenklich den Kopf hin und her, wägt, wie es seine Art ist, die Möglichkeiten gegeneinander ab, zögert noch einmal – und dann wandert seine zitternde, von altersflecken übersäte Hand nach vorn, ergreift den Bauern auf G2 und setzt ihn auf G3.

Die Turmuhr von Saint-Sulpice schlägt acht. Die andern Schachspieler des Jardin du Luxembourg sind längst zum Aperitif gegangen, der Mühlebrettverleiher hat längst seine Bude geschlossen. Nur in der Mitte des Pavillons steht noch um die zwei Kämpfer die Gruppe der Zuschauer. Sie schauen mit großen Kuhblicken auf das Schachbrett, wo ein kleiner weißer Bauer die Niederlage des schwarzen Königs besiegelt hat. Und sie wollen es noch immer nicht glauben. Sie wenden ihre Kuhblicke von der deprimierenden Szenerie des Spielfeldes ab, dem Feldherrn zu, der bleich, blasiert und schön und unbeweglich auf seinem Gartenstuhl sitzt. »Du hast nicht verloren«, spricht es aus ihren Kuhblicken, »du wirst jetzt ein Wunder vollbringen. Du hast diese Lage von Anfang an vorausgesehen, ja herbeigeführt. Du wirst jetzt den Gegner vernichten, wie, das wissen wir nicht, wir wissen ja überhaupt nichts, wir sind ja nur einfache Schachspieler. Aber du, Wundermann, kannst es vollbringen, du wirst es vollbringen. Enttäusche uns nicht! Wir glauben an dich. Vollbringe das Wunder, Wundermann, vollbringe das Wunder und siege!«

Der junge Mann saß da und schwieg. Dann rollte er die Zigarette mit dem Daumen an die Spitze von Zeige- und Mittelfinger und steckte sie sich in den Mund. Zündete sie an, nahm einen Zug, blies den Rauch übers Schachbrett. Glitt mit seiner Hand durch den Rauch, ließ sie einen Moment über dem schwarzen König schweben und stieß ihn dann um.

Es ist eine zutiefst ordinäre und böse Geste, wenn man den König umstößt zum Zeichen der eigener Niederlage. Es ist, wie wenn man nachträglich das ganze Spiel zerstört. Und es macht ein häßliches Geräusch, wenn der umgestoßene König gegen das Brett schlägt. Jedem Schachspieler sticht es ins Herz.

Der junge Mann, nachdem er den König verächtlich mit einem Fingerschlag umgestoßen hatte, erhob sich, würdigte weder seinen Gegner noch das Publikum eines Blicks, grüßte nicht und ging davon.

Die Zuschauer standen betreten, beschämt, und blickten ratlos auf das Schachbrett. Nach einer Weile räusperte sich der eine oder der andre, scharrte mit dem Fuß, griff zur Zigarette. – Wieviel Uhr ist es? Schon Viertel nach acht? Mein Gott, so spät! Wiedersehn! Salut Jean! und sie murmelten irgendwelche Entschuldigungen und verdrückten sich rasch.

Der Lokalmatador blieb alleine zurück. Er stellte den umgestoßenen König wieder aufrecht hin und begann, die Figuren in ein Schächtelchen zu sammeln, erst die geschlagenen, dann die auf dem Brett verbliebenen. Während er das tat, ging er, wie es seine Gewohnheit war, die einzelnen Züge und Stellungen der Partie noch einmal in Gedanken durch. Er hatte nicht einen einzigen Fehler gemacht, natürlich nicht. Und dennoch schien ihm, als habe er so schlecht gespielt wie nie in seinem Leben. Nach Lage der Dinge hätte er seinen Gegner schon in der Eröffnungsphase matt setzen müssen. Wer einen so miserablen Zug wie jenes Damengambit zuwege brachte, wies sich als Ignorant des Schachspiels aus. Solche Anfänger pflegte Jean je nach Laune gnädig oder ungnädig, jedenfalls aber zügig und ohne Selbstzweifel abzufertigen. Diesmal aber hatte ihn offenbar die Witterung für die wahre Schwäche seines Gegners verlassen – oder war er einfach feige gewesen? Hatte er sich nicht getraut, mit dem arroganten Scharlatan, wie er es verdiente, kurzen Prozeß zu machen?

Nein, es war schlimmer. Er hatte sich nicht vorstellen wollen, daß der Gegner so erbärmlich schlecht sei. Und noch schlimmer: Fast bis zum Ende des Kampfes hatte er glauben wollen, daß er dem Unbekannten nicht einmal ebenbürtig sei. Unüberwindlich wollten ihm dessen Selbstsicherheit, Genialität und jugendlicher Nimbus scheinen. Deshalb hatte er so über die Maßen vorsichtig gespielt. Und nicht genug: Wenn Jean ganz ehrlich war, so mußte er sich sogar eingestehen, daß er den Fremden bewundert hatte, nicht anders als die andern, ja daß er sich gewünscht hatte, jener möge siegen und ihm, Jean, auf möglichst eindrucksvolle und geniale Weise die Niederlage, auf die zu warten er seit Jahren müde wurde, endlich beibringen, damit er endlich befreit wäre von der Last, der Größte zu sein und alle schlagen zu müssen, damit das gehässige Volk der Zuschauer, diese neidige Bande, endlich seine Befriedigung hätte, damit Ruhe wäre, endlich…

Aber dann hatte er natürlich doch wieder gewonnen. Und es war ihm dieser Sieg der ekelhafteste seiner Laufbahn, denn er hatte, um ihn zu vermeiden, ein ganzes Schachspiel lang sich selbst verleugnet und erniedrigt und vor dem erbärmlichsten Stümper der Welt die Waffen gestreckt.

Er war kein Mann großer moralischer Erkenntnisse, Jean, der Lokalmatador. Aber soviel war ihm klar, als er mit dem Schachbrett unterm Arm und dem Schächtelchen mit den Figuren in der Hand nach Hause schlurfte: daß er nämlich in Wahrheit heute eine Niederlage erlitten hatte, eine Niederlage, die deshalb so furchtbar und endgültig war, weil es für sie keine Revanche gab und sie durch keinen noch so glänzenden künftigen Sieg wieder würde wettzumachen sein. Und daher beschloß er – der im übrigen auch nie je ein Mann großer Entschlüsse gewesen war, – Schluß zu machen mit dem Schach, ein für allemal.

Künftig würde er Boules spielen wie all die andern Rentner auch, ein harmloses, geselliges Spiel von geringerem moralischem Anspruch.