»Warum sagen Sie das?« fragte Smiley rasch, und D'Arcy antwortete, mit einem kurzen Blick auf Fielding: »Es sieht so aus, als habe sie erwartet, überfallen zu werden.«
»Meine Schwester ist in Hunde vernarrt«, sprach D'Arcy weiter. »Vielleicht wissen Sie das bereits. King-Charles-Spaniels sind ihre Stärke. Sie gewann letztes Jahr auf der North-Dorset-Hundeschau einen Preis und erhielt kurz danach bei Crufts für ihre >Königin von Carne< eine lobende Anerkennung. Sie verkauft nach Amerika, wissen Sie. Ich darf sagen, es gibt in England wenig Leute mit Dorothys Erfahrung in dieser Zucht. Die Frau des Direktors sah sich veranlaßt, vorige Woche genau dasselbe zu sagen. Nun, die Rodes waren unsere Nachbarn, wie Sie wissen, und Dorothy ist nicht die Person, ihre nachbarlichen Pflichten zu vernachlässigen. Wo es sich um Pflichten handelt, wird man sie nicht wählerisch finden, versichere ich Ihnen. Die Rodes hatten auch einen Hund, einen ziemlich großen Bastard, ein ganz intelligentes Tier, das sie mitgebracht hatten. - Ich habe kaum eine Ahnung, woher sie gekommen sind, aber das ist etwas anderes. - Sie schienen ziemlich an dem Hund zu hängen, und ich bezweifle es nicht. Rode nahm ihn mit zum Fußballspiel, bis ich Gelegenheit fand, ihm davon abzuraten. Diese Gepflogenheit gab nämlich Veranlassung zu unangemessener Belustigung bei den Jungen. Ich selbst fand das auch heraus, als ich Dorothys Spaniels spazierenführte. Ich werde sofort zur Sache kommen. Dorothy konsultierte einen Tierarzt namens Harriman, einen überragenden Könner, der drüben nach Sturminster zu wohnt. Vor zwei Wochen ließ sie ihn kommen. »Königin von Carne< hustete schlimm, und Dorothy bat Harriman herüberzukommen. Eine Hündin von dieser Qualität darf man nicht vernachlässigen, versichere ich Ihnen.«
Fielding stöhnte, und D'Arcy fuhr fort, ohne ihn zu beachten.
»Ich war zufällig zu Hause, und Harriman blieb zu einer Tasse Kaffee. Er ist, wie gesagt, ein überragender Könner. Harriman erwähnte irgendwie den Hund der Rodes, und dann kam die Wahrheit heraus; Mrs. Rode hatte den Hund am Vortag töten lassen. Sie sagte, er habe den Postboten gebissen. Eine lange und konfuse Geschichte; die Postverwaltung würde sie gerichtlich belangen, die Polizei sei dagewesen, und ich weiß nicht, was sonst noch. Jedenfalls sagte sie, der Hund könne sie doch nicht wirklich schützen, nur warnen. Sie hatte zu Harriman gesagt: >Er wäre zu nichts nütze.<«
»War sie über den Verlust des Hundes nicht unglücklich?« fragte Smiley.
»O doch, ja. Harriman sagte, sie sei bei ihrer Ankunft in Tränen gewesen. Mrs. Harriman mußte ihr eine Tasse Tee machen. Sie schlugen vor, sie solle dem Hund doch noch eine Chance geben, ihn für einige Zeit in einen Zwinger tun, aber sie blieb unnachgiebig, ganz unnachgiebig. Harriman war sehr verblüfft. Auch seine Frau. Als sie es hinterher besprachen, stimmten sie darin überein, daß Mrs. Rodes Verhalten nicht ganz normal gewesen war. Wirklich gar nicht normal. Eine weitere merkwürdige Tatsache war der Zustand des Hundes: er war mißhandelt worden, sehr ernstlich. Sein Rücken war wie von Schlägen gezeichnet.«
»Ging Harriman auf ihre Bemerkung ein? Daß der Hund zu nichts nütze sei? Was hielt er davon?« Smiley beobachtete D'Arcy gespannt.
»Sie wiederholte sie gegenüber Mrs. Harriman, aber sie wollte sie nicht näher erklären. Ich glaube jedoch, die Erklärung liegt auf der Hand.«
»Oh?« sagte Fielding.
D'Arcy legte den Kopf zur Seite und zupfte sich geziert am Ohrläppchen. »Wir alle haben ein wenig von einem Detektiv in uns«, sagte er. »Dorothy und ich besprachen es nach dem - Tod. Wir kamen zu dem Schluß, daß Stella Rode, ehe sie nach Carne kam, irgendwo eine anstößige Verbindung eingegangen war, die sie neuerdings wieder aufgenommen hat... möglicherweise gegen ihren Willen. Irgendein gewalttätiger Wüstling - ein alter Bewunderer-, dem die Verbesserung ihrer Stellung zuwider war.«
»Wie arg wurde denn der Briefträger von dem Hund gebissen?«
D'Arcy wandte sich wieder zu ihm.
»Das ist ja das Erstaunliche, der springende Punkt der Geschichte, verehrter Herr: Der Briefträger war gar nicht gebissen worden. Dorothy hat sich erkundigt, Ihre ganze Erzählung war von Anfang bis zum Ende eine einzige Lügenkette.«
Sie standen vom Tisch auf und gingen in Fieldings Studierzimmer, wo Miss Truebody den Kaffee serviert hatte. Die Unterhaltung bewegte sich weiterhin um die Tragödie des Mittwochs. D'Arcy war besessen von der Gewöhnlichkeit der Begleitumstände - der Hartnäckigkeit der Journalisten, der Gefühllosigkeit der Polizei, der Ungewißheit von Mrs. Rodes Herkunft, dem Mißgeschick ihres Mannes. Fielding war immer noch merkwürdig schweigsam, in seine Gedanken versunken, aus denen er gelegentlich auftauchte, um D'Arcy mit einem feindseligen Blick zu mustern. Um genau Viertel vor elf erklärte D'Arcy, er sei müde, und alle drei gingen in die große Halle, wo Miss Truebody einen Mantel für Smiley und Mantel, Schal und Kappe für D'Arcy bereithielt. Fielding nahm D'Arcys Dank mit einem mürrischen Nicken entgegen. Er wandte sich an Smiley:
»Die Sache, wegen der Sie mich anriefen. Worum handelt es sich genau?«
»Oh - ein Brief von Mrs. Rode, unmittelbar bevor sie ermordet wurde«, sagte Smiley vage, »die Polizei bearbeitet ihn jetzt, aber sie betrachtet ihn nicht als... bedeutsam. Keineswegs als bedeutsam. Sie scheint an einer Art von« - er lächelte verwirrt - »Verfolgungswahn gelitten zu haben. Nennt man es so? Jedenfalls, wir müssen uns einmal darüber unterhalten. Sie müssen mit mir im >Sawley Arms< essen, bevor ich zurückfahre. Kommen Sie eigentlich nie nach London? Wir könnten uns vielleicht in London treffen, am Semesterende.«
D'Arcy stand im Türeingang und betrachtete den Neuschnee, der weiß und makellos auf dem Pflaster vor ihm lag.
»Ah«, sagte er mit einem kleinen wissenden Lachen, »die langen Nächte, Terence, die langen Nächte.«
STECHPALMEN FÜR DEN TEUFEL
»Was sind denn die langen Nächte?« fragte Smiley, als er und D'Arcy rasch von Fieldings Haus durch den Neuschnee zum Abteihof gingen.
»Wir haben ein Sprichwort, daß es in Carne immer in den langen Nächten schneit. Das ist hier die traditionelle Bezeichnung für die Fastennächte«, antwortete D'Arcy. »Vor der Reformation hielten die Mönche der Abtei eine Vigil während der Fastenzeit zwischen den Offizien des Abends und Morgens. Sie wissen das vielleicht schon. Da kein religiöser Orden mehr mit der Abtei verbunden ist, ist man von der Übung abgekommen. Wir fahren aber fort, sie zu beachten, indem wir die Komplet während der Fastenzeit halten. Die Komplet war der letzte der kanonischen Tagesgottesdienste und wurde vor dem Zubettgehen gehalten. Der Direktor, der vor dieser Art von Traditionen einen großen Respekt hat, führte die alten Worte für unsere Andachtsübungen wieder ein. Die Prim war die Frühandacht, wie Ihnen zweifellos bekannt ist. Terz war zur dritten Stunde nach Tagesanbruch - das heißt, neun Uhr morgens. Derart nennen wir es nicht mehr Morgenandacht, sondern Terz. Ich finde das reizvoll. Desgleichen halten wir während Advent und Fastenzeit mittags Sext in der Abtei.«
»Sind alle diese Andachten Pflicht?«
»Natürlich. Sonst wäre es ja notwendig, für diejenigen Jungen Vorkehrungen zu treffen, die nicht teilnehmen. Das ist nicht erwünscht. Außerdem, Sie vergessen, daß Carne eine religiöse Stiftung ist.«
Es war eine schöne Nacht. Als sie den Platz überquerten, sah Smiley zum Turm hinauf. Er schien im Mondlicht kleiner und friedlicher. Das Weiß des Neuschnees erhellte selbst den Himmel; die ganze Abtei hob sich so scharf dagegen ab, daß sogar die verstümmelten Statuen der Heiligen in jeder traurigen Einzelheit ihrer Entstellung klar hervortraten, armselige Gestalten, ihrer Wirkung beraubt, ohne Augen, die sich verändernde Welt zu sehen.
Sie erreichten die Kreuzung südlich der Abtei.
»Hier trennen sich leider unsere Wege«, sagte D'Arcy, die Hand ausstreckend.
»Es ist eine wunderbare Nacht«, erwiderte Smiley rasch, »lassen Sie mich bis zu Ihrem Haus mitkommen.«