Aber die Perlen und der Mantel und die Fußabdrücke, die nicht von ihr stammte - was war mit denen? Er lag da, dachte nach und kam zu keinem Ergebnis. Endlich war es Zeit zum Aufstehen: es war der Morgen des Begräbnisses.
Als er aus dem Bett stieg, klingelte das Telefon. Es war Rigby. Seine Stimme klang angestrengt und dringlich. »Ich möchte Sie sprechen«, sagte er. »Können Sie vorbeikommen?«
»Vor oder nach dem Begräbnis?«
»Vorher, wenn möglich. Wie wäre es jetzt?«
»Ich bin in zehn Minuten bei Ihnen.«
Rigby sah zum erstenmal, seit Smiley ihn kennengelernt hatte, müde und besorgt aus.
»Es ist die Verrückte Janie«, sagte er. »Der Chef meint, wir sollten sie unter Anklage stellen.«
»Weswegen?«
»Mord«, sagte Rigby trocken und schob eine dünne Akte über den Tisch. »Die alte Närrin hat etwas zu Protokoll gegeben... eine Art Geständnis.«
Sie saßen schweigend da, während Smiley das ungewöhnliche Protokoll las. Es war mit der Signatur der Verrückten Janie - J. L. - gezeichnet, in kindlicher Schrift und mit zollhohen Buchstaben. Der Beamte, der es aufgenommen, hatte damit begonnen, ihren Bericht zusammenzufassen und zu vereinfachen, aber am Ende der ersten Seite hatte er dies offensichtlich verzweifelt aufgegeben. Endlich kam Smiley zur Schilderung des Mordes:
»Dann sag' ich meinem Liebling, ich sag zu ihr: >Du bist ein unartiges Geschöpf, daß du mit dem Teufel gehst<, aber sie hört nicht, siehst du, und ich wurde böse mit ihr, aber sie paßte nicht auf. Ich kann die nicht leiden, die mit Teufeln gehen in der Nacht, und ich sag' es ihr. Sie hätte Stechpalmen haben sollen, Mister, das ist die Wahrheit. Ich sages ihr, Mister, aber sie wollte ja nicht hören, und das sind alles Janies Worte, aber Janie trieb den Teufel weg, das tat Janie, und eine gibt's, die wird's mir danken, das ist mein Liebling, und ich nahm ihren Schmuck, für die Heiligen tat ich's, um die Kirche zu verschönern, und einen Mantel, um mich zu wärmen.«
Rigby beobachtete ihn, wie er das Protokoll langsam wieder auf den Tisch zurücklegte.
»Nun, was halten Sie davon?«
Smiley zögerte. »Ziemlicher Unsinn, wie es da steht«, sagte er schließlich.
»Natürlich«, sagte Rigby. Es klang verächtlich. »Sie sah etwas, Gott weiß was, als sie da draußen herumlungerte; um zu stehlen, wahrscheinlich. Sie kann die Leiche beraubt haben, oder sie hat die Perlen aufgehoben, wo der Mörder sie fallenlassen hat. Wir forschten wegen des Mantels nach. Gehörte einem Mr. Jardine, einem Bäcker in Carne-Ost. Mrs. Jardine gab ihn Stella Rode letzten Mittwoch für die Flüchtlinge. Janie muß ihn aus dem Wintergarten gestohlen haben. Das hat sie mit dem >um mich zu wärmen< gemeint. Aber sie hat Stella Rode ebensowenig ermordet wie Sie oder ich. Wie ist es denn mit den Fußabdrücken, den Handschuhspuren im Wintergarten? Außerdem, sie ist nicht stark genug - Janie ist das nicht, um diese arme Frau zwölf Meter durch den Schnee zu schleppen. Das ist Männerarbeit, wie jeder Mensch einsehen wird.«
»Was also genau...«
»Wir haben die Suche abgeblasen, und ich soll einen Haftbefehl vorbereiten gegen eine Jane Lyn aus dem Dorf Pylle, wegen vorsätzlicher Ermordung von Stella Rode. Ich wollte es Ihnen selbst sagen, bevor Sie es überall in den Zeitungen lesen können. Damit Sie wissen, wie es war.«
»Danke.«
»Wenn ich Ihnen inzwischen irgendwie helfen kann, sind wir noch immer dazu bereit.« Er zögerte, schien noch etwas sagen zu wollen und es sich dann anders zu überlegen.
Als Smiley die breite Treppe hinabging, kam er sich nutzlos vor und war sehr zornig, was kaum die richtige Geistesverfassung für die Teilnahme an einer Beerdigung war.
Es war eine bewundernswert organisierte Angelegenheit. Weder die Blumen noch die Trauergemeinde überstiegen das dem Anlaß Angemessene. Sie wurde nicht in der Abtei bestattet, vielleicht aus Achtung vor ihrem einfachen Geschmack, sondern auf dem Gemeindefriedhof unweit von North Fields. Der Direktor war an dem Tag verhindert, wie er das meistens war, und hatte seine Frau geschickt, eine kleine, äußerst ausdruckslose Frau, die lange in Indien gelebt hatte. D'Arcy benahm sich sehr auffallend und flatterte vor der Feier wie ein eifriger Pedell hier herum und da, und Mr. Cardew war gekommen, um die arme Stella durch die ungewohnte anglikanische Hochkirchenprozedur zu geleiten. Die Hechts waren anwesend, Charles ganz in Schwarz, geschrubbt und glänzend, und Shane in dramatischer Aufmachung, mit einem sehr breitrandigen Hut.
Smiley, der wie die anderen in Erwartung des ungesunden öffentlichen Interesses, das die Zeremonie vielleicht erregen würde, frühzeitig gekommen war, fand einen Sitz in der Nähe des Kircheneingangs. Er beobachtete jeden neu Ankommenden mit Interesse und wartete auf seinen ersten Anblick von Stanley Rode.
Einige Geschäftsleute trafen ein, in ausgebeulte Serge gezwängt und mit schwarzen Schlipsen, und bildeten eine kleine Gruppe rechts des Mittelganges, abseits der Lehrerschaft und ihrer Frauen. Bald stießen andere Mitglieder der Bürgerschaft zu ihnen, Frauen, die Stella Rode im Bethaus kennengelernt hatten, und dann Rigby, der Smiley gerade ansah und kein Zeichen des Erkennens gab. Dann schritt beim dritten Glockenschlag ein großer alter Mann langsam durch die Eingangstür; er sah gerade vor sich hin; kannte und sah niemanden. Neben ihm ging Stanley Rode.
Er hatte ein Gesicht, das Smiley beim ersten Anblick nichts sagte, da es weder den Stempel eines Temperaments noch die ausgeprägten Elemente eines Charakters zu haben schien; es war ein seichtes, gewöhnliches Gesicht, zur Plumpheit neigend, ohne Qualität. Es paßte zu seinem gedrungenen, gewöhnlichen Körper und seinem schwarzen, gewöhnlichen Haar; es trug einen angemessenen Ausdruck von Trauer. Während Smiley ihn in das Mittelschiff eintreten und seinen Platz unter den Hauptleidtragenden einnehmen sah, fiel ihm auf, daß Rodes Gang und Haltung erforgreich etwas durchblicken ließen, was Carne völlig fremd war. Wenn es vulgär ist, in der Brusttasche der Jacke einen Federhalter zu tragen, einen Island-Pullover und braune Schlipse zu bevorzugen, beim Gehen etwas einzuknicken und die Füße auswärts zu drehen, dann war Rode ohne jeden Zweifel vulgär; denn obwohl er diese Sünden jetzt nicht beging, deutete sein Benehmen doch auf ihr Vorhandensein hin.
Sie folgten dem Sarg auf den Friedhof und versammelten sich um das offene Grab. D'Arcy und Fielding standen beisammen, offenbar auf die Zeremonie konzentriert. Die große, ältliche Gestalt, die die Kirche zusammen mit Rode betreten hatte, war jetzt sichtlich bewegt, und Smiley erriet, daß es Stellas Vater war, Samuel Glaston. Als die Zeremonie zu Ende war, entfernte sich der alte Mann schnell von der Menge, nickte Rode kurz zu und verschwand in der Kirche. Er schien beim Gehen einen Widerstand zu überwinden, wie jemand, der gegen einen starken Wind ankämpft.
Die kleine Gruppe bewegte sich langsam vom Grabe fort, bis nur noch Rode übrig war, eine seltsame steife Gestalt, gespannt und beherrscht, die Augen geweitet, aber irgendwie ins Leere blickend, den Mund zum strengen Ausdruck eines Lehrers gestrafft.
Dann schien Rode, während Smiley zusah, aus einem Traum zu erwachen; sein Körper entspannte sich plötzlich, und auch er ging langsam, aber ganz zuversichtlich vom Grabe zu der kleinen Gruppe, die sich jetzt am Friedhofstor wieder versammelt hatte. Dabei sah ihn Fielding, in der Ecke der Gruppe, näher kommen und ging, zu Smileys Überraschung, ganz absichtlich und schnell mit dem Ausdruck starken Abscheus davon. Es war nicht die berechnete Handlung eines Mannes, der einen anderen beleidigen wollte, denn sie wurde weder von Rode noch sonst von einem Umstehenden bemerkt. Wenn einer, dann schien Terence Fielding von einer echten Gefühlsregung übermannt und gleichgültig dagegen zu sein, welchen Eindruck er damit hervorrief.
Widerstrebend näherte sich Smiley der Gruppe. Rode stand ziemlich abseits, die D'Arcys waren da und drei oder vier Mitglieder des Lehrerkollegiums. Niemand sprach viel. »Mr. Rode?« erkundigte er sich.