»Das stimmt, ja.« Rode sprach langsam, die Spur eines Akzents wurde sorgfältig vermieden.
»Ich vertrete Miss Brimley von der »Christlichen Stimmen«
»Oh, ja.«
»Sie legte großen Wert darauf, daß die Zeitschrift vertreten wäre. Ich dachte, Sie würden das gern wissen.«
»Ich sah Ihren Kranz; sehr gütig, ganz gewiß.«
»Ihre Frau war eine unserer treuesten Helferinnen«, fuhr Smiley fort. »Wir betrachteten sie fast als zur Familie gehörig.«
»Ja, sie war sehr interessiert an der >Stimme<.«
Smiley überlegte, ob Rode immer so passiv war oder ob ihn der Trauerfall gleichgültig gemacht hatte.
»Wann sind Sie eingetroffen?« fragte Rode plötzlich. »Am Freitag.«
»Machen ein Wochenende daraus, wie?«
Smiley war einen Moment so erstaunt, daß ihm keine Erwiderung einfiel. Rode sah ihn immer noch antwortheischend an.
»Ich habe ein oder zwei Bekannte hier... Mr. Fielding ...«
»Oh, Terence.«
Smiley war überzeugt, daß Rode mit Fielding nicht auf Duzfuß stand.
»Ich möchte, wenn es Ihnen recht ist«, begann Smiley vorsichtig, »gern für Miss Brimley einen Nachruf schreiben. Hätten Sie etwas dagegen?«
»Stella wäre das sehr recht gewesen.«
»Wenn Sie nicht zu durcheinander sind, könnte ich vielleicht morgen wegen ein oder zwei Einzelheiten bei Ihnen vorbeikommen?«
»Gewiß.«
»Elf Uhr?«
»Es wird mir ein Vergnügen sein«, antwortete Rode fast schnippisch, und sie gingen zusammen zum Friedhofstor.
DIE TRAUERNDEN
Es war eine schäbige List, die er da gegen einen Mann anwandte, der plötzlich seine Frau verloren hatte. Smiley wußte das. Als er behutsam das Tor öffnete und die Auffahrt betrat, wo er vor zwei Nächten seine merkwürdige Unterhaltung mit Jane Lyn gehabt hatte, gestand er sich ein, daß er völlig gewissenlos handelte, wenn er Rode zu einer solchen Zeit unter irgendeinem Vorwand besuchte. Es war eine Besonderheit von Smileys Charakter, daß er es während seiner ganzen Geheimdienstarbeit niemals fertiggebracht hatte, die Mittel mit dem Zweck in Einklang zu bringen. Als strenger Kritiker seiner eigenen Motive hatte er nach langer Beobachtung herausgefunden, daß er sich weniger oft vom Intellekt leiten ließ, als seine Gewohnheiten und Neigungen andeuten mochten; einmal war er im Krieg von seinem Vorgesetzten als ein Mann beschrieben worden, der die List Satans mit dem Gewissen einer Jungfrau vereinigt, und das schien ihm nicht ganz ungerecht.
Er drückte auf den Klingelknopf und wartete.
Stanley Rode öffnete die Tür. Er war sehr sauber angezogen, wirkte sehr gepflegt.
»Oh, hallo«, sagte er, als seien sie alte Freunde. »Sagen Sie, Sie haben nicht etwa einen Wagen?«
»Ich habe ihn leider in London gelassen.«
»Nicht so wichtig.« Rode schien enttäuscht. »Dachte, wir hätten vielleicht eine Fahrt unternehmen und uns unterwegs unterhalten können. Ich kriege es langsam satt, hier allein herumzumurksen. Miss D'Arcy hat mich gebeten, bei ihnen zu wohnen. Sehr nette Leute, sehr nett, aber irgendwie wollte ich's nicht, noch nicht.«
»Ich verstehe das.«
»Wirklich?« Sie waren jetzt in der Halle. Smiley zog seinen Mantel aus, Rode wartete darauf, ihn in Empfang zu nehmen. »Ich glaube, viele verstehen es nicht - die Einsamkeit, meine ich. Wissen Sie, was sie gemacht haben, der Direktor und D'Arcy? Sie haben es gut gemeint, ich weiß. Sie haben alle meine Korrekturen weitervergeben - meine Examenskorrekturen. Was glaubt man wohl, was ich hier allein machen soll? Ich habe keinen Unterricht, nichts; sie sind alle eingesprungen. Man könnte glauben, sie wollen mich loswerden.«
Smiley nickte vage. Sie gingen zum Wohnzimmer, Rode voran.
»Ich weiß, sie meinten es gut, wie ich schon sagte. Aber schließlich muß ich ja die Zeit irgendwie hinbringen. Simon Snow hat einiges von meinen Aufgaben zum Korrigieren bekommen. Haben Sie ihn vielleicht zufällig getroffen? Einundsechzig Prozent hat er einem Jungen gegeben - einundsechzig! Der Junge ist ein völliger Dummkopf; ich sagte Fielding am Semesterbeginn, daß er unmöglich versetzt werden könne. Perkins ist sein Name, ein ganz netter Junge, Präfekt in Fieldings Haus. Dreißig Prozent wären schon viel für ihn... einundsechzig Prozent gab ihm Snow. Ich habe die Prüfungsarbeiten natürlich noch nicht gesehen, aber es ist unmöglich, ganz unmöglich.«
Sie setzten sich.
»Nicht, daß ich etwas gegen das Weiterkommen des Jungen hätte. Er ist ein ganz netter Junge, nichts Besonderes, aber gute Manieren. Mrs. Rode und ich wollten ihn dieses Semester mal zum Tee einladen. Wir hätten es auch getan, wenn nicht...«
Einen Augenblick herrschte Stille. Smiley wollte sprechen, aber Rode stand auf und sagte:
»Ich habe einen Kessel auf dem Herd, Mr - «
»Smiley.«
»Ich habe einen Kessel auf dem Herd, Mr. Smiley. Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee machen?« Diese schwache, starre Stimme mit den sorgfältig gezeichneten Kanten, wie ein geliehener Cutaway, dachte Smiley.
Rode kam nach ein paar Minuten mit einem Tablett zurück und maß den Kaffee nach ihrem persönlichen Geschmack in genauen Mengen zu.
Smiley war ständig irritiert von Rodes gesellschaftlichem Getue und seinem dauernden Bemühen, seine Herkunft zu verbergen. Die ganze Zeit konnte man, aus jedem Wort und jeder Geste, bestimmen, was er war; aus dem Abwinkeln seines Ellbogens beim Kaffeetrinken, aus dem raschen, fachmännischen Zupfen am Knie seiner Hose beim Hinsetzen.
»Dürfte ich jetzt vielleicht...«, begann Smiley.
»Schießen Sie los, Mr. Smiley.«
»Wir sind natürlich besonders an Mrs. Rodes Beziehung zu unserer Kirche interessiert.«
»Gewiß.«
»Sie sind in Branxome getraut worden, nehme ich an.«
»Branxome Berg-Bethaus; schöne Kirche.« D'Arcy hätte die Art, wie er das sagte, nicht gemocht; selbstsicherer Bursche auf einem Motorrad, Bleistifte in der Außentasche.
»Wann war das?«
»September einundfünfzig.«
»Hat sich Mrs. Rode in Branxome karitativ betätigt? Ich weiß, sie war hier sehr aktiv.«
»Nein, nicht in Branxome, aber hier sehr viel. Sie mußte in Branxome ihren Vater versorgen, wissen Sie. Hier befaßte sie sich eifrig mit Flüchtlingshilfe. Die kam erst spät im Jahre 1956 richtig in Gang - die Ungarn fingen damit an, und dann dieses letzte Jahr...«
Smiley sah Rode nachdenklich durch seine Brille an, vergaß sich, zwinkerte und blickte weg.
»Nahm sie großen Anteil an den gesellschaftlichen Vorgängen in Carne? Hat die Lehrerschaft eine eigene Frauenorganisation und so weiter?« fragte er unschuldig.
»Sie tat ein bißchen mit, ja. Aber da sie zur Chapel gehörte, hielt sie hauptsächlich zu den Chapel-Leuten aus der Stadt... Sie sollten Mr. Cardew danach fragen, er ist der Prediger.«
»Aber darf ich sagen, daß sie auch an Schulangelegenheiten aktiv teilnahm?«
Rode zögerte.
»Ja, natürlich«, sagte er.
»Danke.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann fuhr Smiley fort: »Unsere Leser werden natürlich Mrs. Rode als Gewinnerin unseres Preisausschreibens für Küchenwinke in Erinnerung haben. War sie eine gute Köchin, Mr. Rode?«
»Sehr gut, in einfachen, nicht in ausgefallenen Sachen.«
»Gibt es irgendeine kleine Einzelheit, die Sie besonders erwähnt haben möchten, irgend etwas, von dem sie selbst gewünscht hätte, daß man sich deswegen an sie erinnert?«
Rode sah ihn mit ausdruckslosen Augen an. Dann zuckte er die Achseln.
»Nein, eigentlich nicht. Mir fällt nichts ein. Oh, Sie könnten sagen, daß ihr Vater oben im Norden Friedensrichter war. Darauf war sie stolz.«
Smiley trank seinen Kaffee aus und stand auf.
»Sie haben mir sehr viel Zeit gewidmet, Mr. Rode. Wir sind Ihnen sehr dankbar, versichere ich Ihnen. Ich werde dafür sorgen, daß Sie ein Vorausexemplar unseres Berichtes bekommen...«
»Danke. Ich tat es für sie, wissen Sie. Sie mochte die >Stimme< schon immer. Wuchs mit ihr auf.«