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Sie reichten einander die Hand.

»Übrigens, wissen Sie, wo ich den alten Mr. Glaston antreffen könnte? Bleibt er noch in Carne, oder ist er schon nach Branxome zurückgereist?«

»Er war gestern hier. Er fährt heute nachmittag nach Branxome zurück. Die Polizei wollte ihn vor seiner Abreise noch sprechen.«

»Ach so.«

»Er wohnt im >Sawley<.«

»Danke. Ich könnte versuchen, ihn zu treffen, bevor ich wegfahre.«

»Wann reisen Sie denn ab?«

»Ziemlich bald, denke ich. Adieu, Mr. Rode. Übrigens -«

»Ja?«

»Wenn Sie je in London sind und nicht wissen, was Sie anfangen sollen, wenn Sie den Wunsch nach einem Tratsch verspüren... und nach einer Tasse Tee, werden wir uns immer freuen, Sie in der >Stimme< zu sehen. Immer.«

»Danke. Vielen Dank, Mr - «

»Smiley.«

»Danke, das ist sehr freundlich. Das hat mir seit langem niemand gesagt. Ich werde Sie eines Tages beim Wort nehmen. Sehr nett von Ihnen.«

»Auf Wiedersehen.« Wieder schüttelten sie einander die Hand; Rodes Hand war trocken und kühl. Glatt.

Er kehrte zum »Sawley Arms« zurück, setzte sich in der leeren Hotelhalle an einen Tisch und schrieb einen Brief an Mr. Glaston:

Sehr geehrter Mr. Glaston,

ich bin im Auftrag von Miss Brimley von der »Christlichen Stimme« hier. Ich habe einige Briefe von Stella, von denen ich annehme, daß Sie sie vielleicht sehen möchten. Verzeihen Sie, daß ich Sie in diesem traurigen Augenblick behellige; wie ich höre, verlassen Sie Carne heute nachmittag, und ich möchte fragen, ob ich Sie vielleicht vor Ihrer Abreise sprechen könnte.

Er verschloß den Umschlag sorgfältig und trug den Brief zum Rezeptionspult. Dort war niemand, er klingelte also und wartete. Endlich kam der Portier; wie ein alter Gefangenenaufseher mit einem grauen, stoppeligen Gesicht sah er aus. Nachdem er den Umschlag lange und kritisch geprüft hatte, war er für ein übertriebenes Trinkgeld bereit, ihn in Mr. Glastons Zimmer zu befördern. Smiley blieb am Pult und erwartete seine Antwort.

Smiley war einer von jenen Einzelgängern, die vollkommen entwickelt mit achtzehn Jahren auf die Welt gekommen zu sein schienen. Ein zurückgezogenes Dasein entsprach sowohl seiner Natur als auch seinem Beruf. Die Nebenwege der Spionage werden nicht von den lauten und farbenfrohen Abenteurern der Unterhaltungsliteratur bevölkert. Ein Mann, der wie Smiley jahrelang unter den Feinden seines Landes gearbeitet hat, lernt nur ein Gebet: daß man nie, nie auffallen möge. Anpassung ist sein höchstes Ziel. Er lernt die Menschenmassen lieben, die an ihm auf der Straße ohne einen Blick vorübergehen; er hängt sich an sie um seiner Anonymität und Sicherheit willen. Seine Furcht macht ihn servil - er könnte die Kauflustigen umarmen, die ihn in ihrer Ungeduld stoßen und vom Gehsteig drängen. Er könnte die Beamten, die Polizisten, die Omnibuschauffeure wegen der harten Gleichgültigkeit ihrer Haltung anbeten.

Doch diese Furcht, diese Servilität, diese Abhängigkeit hatten in Smiley ein Einfühlungsvermögen für die Eigenheit menschlicher Wesen entwickelt: eine rasche, feminine Empfindsamkeit für ihre Charaktere und Motive. Er kannte die Menschen wie ein Jäger seine Deckung, wie ein Fuchs den Wald. Denn ein Spion muß jagen, während er gejagt wird, und die Menge ist sein Revier. Er konnte ihre Gesten und Worte ablesen, das Zusammenspiel von Blick und Bewegung vermerken, wie ein Jäger das geknickte Farnkraut, den gebrochenen Zweig registriert oder wie ein Fuchs die Zeichen der Gefahr entdeckt.

So war er, während er geduldig auf Glastons Antwort wartete und sich die zusammengedrängten Ereignisse der letzten achtundvierzig Stunden in Erinnerung rief, imstande, sie gelassen zu ordnen und zu prüfen. Was war der Grund von D'Arcys Haltung gegenüber Fielding, als seien sie widerwillige Teilhaber eines schäbigen Geheimnisses? Über den verwahrlosten Hotelgarten zur Abtei von Carne hinüberblickend, konnte er hinter dem Bleidach der Abtei die vertrauten Zinnen der Schule erkennen: Sie ließen die neue Welt nicht ein und schützten die alte. Vor seinem geistigen Auge sah er jetzt den großen Hof und die Jungen, die aus der Kapelle kamen: die schwarz-röckigen Gruppen mit den lässigen Gebärden, die im England des achtzehnten Jahrhunderts üblich waren. Und er dachte an die andere Schule neben der Polizeistation: die öffentliche Schule von Carne; ein kleines, schäbiges Gebäude, wie ein Pförtnerhaus auf einem leeren Friedhof, so weit entfernt vom Stil von Carne wie sein Back- und Feldstein von den safrangelben Zinnen der Schulhalle.

Ja, überlegte er, Stanley Rode war der öffentlichen Schule in Branxome ganz und gar entwachsen. Und wenn er seine Frau ermordet hatte, so waren das Motiv - davon war Smiley überzeugt - und selbst das Mordwerkzeug in diesem mühevollen Gang nach Carne zu finden.

»Sehr freundlich von Ihnen, daß Sie gekommen sind«, sagte Glaston, »freundlich von Miss Brimley, Sie zu schicken. Es sind gute Leute an der >Stimme<; immer gewesen.« Er sagte dies, als sei »gut« eine absolute Eigenschaft, mit der er vertraut war.

»Sie lesen am besten die Briefe, Mr. Glaston. Der zweite wird sie schockieren, fürchte ich, aber ich bin sicher, Sie werden mir zustimmen, daß es falsch von mir wäre, ihn Ihnen nicht zu zeigen.« Sie saßen im Kaffeesalon, die Mammutpflanzen wie Wächter neben sich.

Er übergab Glaston die beiden Briefe, und der alte Mann nahm sie mit fester Hand und las sie. Er hielt sie beim Lesen ziemlich weit von sich weg, den charaktervollen Kopf zurückgeworfen, die Augen halb geschlossen, die scharfe Linie seines Mundes an den Winkeln herabgezogen. Schließlich sagte er:

»Sie waren im Krieg mit Miss Brimley zusammen, nicht wahr?«

»Ich habe mit John Landsbury gearbeitet, ja.«

»Ich verstehe. Deswegen wandte sie sich an Sie?«

»Ja.«

»Gehören Sie zur Chapel-Sekte?«

»Nein.«

Er schwieg eine Weile, die Hände im Schoß gefaltet, die Briefe vor sich auf dem Tisch.

»Stanley gehörte zur Chapel, als sie heirateten. Dann trat er über. Wußten Sie das?«

»Ja.«

»Dort, wo ich herkomme, im Norden, tun wir das nicht. Unsere Religion war etwas, wofür wir eintraten und siegten. Fast wie das Stimmrecht.«

»Ich weiß.«

Seine Haltung war gerade, soldatisch. Er sah eher streng als traurig aus. Ganz plötzlich richtete er seinen Blick auf Smiley und sah ihn lange und aufmerksam an.

»Sind Sie ein Schulmeister?« fragte er, und Smiley fiel ein, daß Samuel Glaston zu seiner Zeit ein sehr schlauer Geschäftsmann gewesen war.

»Nein... Ich habe mich mehr oder weniger zurückgezogen.«

»Verheiratet?«

»Ich war es.«

Wieder fiel der alte Mann in Schweigen, und Smiley wünschte, er hätte ihn in Ruhe gelassen.

»Sie war eine große Klatschbase«, äußerte er endlich.

Smiley erwiderte nichts.

»Haben Sie es der Polizei gesagt?«

»Ja. Aber sie wußte schon Bescheid. Das heißt, sie wußte, daß Stella dachte, ihr Mann werde sie ermorden. Sie hatte versucht, es Mr. Cardew zu sagen...«

»Dem Prediger?«

»Ja. Er meinte, sie wäre überreizt und... von Wahnvorstellungen verfolgt.«

»Glauben Sie, daß sie das nicht war?«

»Das weiß ich nicht. Ich weiß es einfach nicht. Aber nach allem, was ich über Ihre Tochter gehört habe, glaube ich nicht, daß sie geistesgestört war. Irgend etwas erregte ihren Verdacht, irgend etwas erfüllte sie mit großer Furcht. Ich glaube nicht, daß wir das einfach außer acht lassen können. Ich halte es nicht für einen Zufall, daß sie Angst hatte, bevor sie starb. Und deswegen glaube ich nicht, daß die Bettlerin sie ermordet hat.«

Samuel Glaston nickte langsam. Smiley schien es, daß der alte Mann Interesse zu zeigen versuchte, teils aus Höflichkeit und andererseits, weil Teilnahmslosigkeit ein Eingeständnis sein würde, daß er das Interesse am Leben selbst verloren hatte.

Dann faltete er nach einem langen Schweigen die Briefe sorgfältig wieder zusammen und gab sie ihm zurück. Smiley wartete darauf, daß er etwas sagen werde, aber er sagte nichts.