Nach einigen Augenblicken stand Smiley auf und verließ leise den Raum.
KLEINE FRAUEN
Shane Hecht lächelte und nahm einen Schluck Sherry. »Sie müssen ja furchtbar wichtig sein«, sagte sie zu Smiley, »wenn D'Arcy anständigen Sherry serviert. Stehen Sie im Gotha?«
»Leider nicht. D'Arcy und ich haben Samstag abend bei Terence Fielding gegessen, und D'Arcy hat mich zum Sherry eingeladen.«
»Terence ist niederträchtig, nicht? Charles verabscheut ihn. Ich furchte, jeder von den beiden sieht Sparta mit ganz anderen Augen... Armer Terence, es ist sein letztes Semester.«
»Ich weiß.«
»So nett von Ihnen, daß Sie gestern zum Begräbnis gekommen sind. Ich hasse Begräbnisse, Sie nicht auch? Schwarz ist so unhygienisch. Ich werde mich immer an das Begräbnis Georgs V. erinnern. Lord Sawley war damals am Hof und gab Charles zwei Karten. So gütig. Ich glaube immer, es hat uns für gewöhnliche Begräbnisse in gewisser Weise verdorben. Obwohl ich mir über Begräbnisse nie ganz klar bin, und Sie? Ich habe den Verdacht, daß sie hauptsächlich eine Unterhaltung für die unteren Schichten sind; Cherry Brandy und Aniskuchen in der guten Stube. Ich finde, Leute unserer Art neigen in diesen Tagen zu einem stillen Begräbnis; keine Blumen, nur ein kurzer Nachruf und Gedächtnisgottesdienst später.« Ihre kleinen Augen strahlten vor Vergnügen. Sie trank ihren Sherry aus und hielt Smiley das leere Glas hin.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, mein Bester? Ich hasse Sherry, aber Felix ist ja so knickrig.«
Smiley füllte ihr Glas aus der Karaffe auf dem Tisch.
»Schrecklicher Mord, nicht? Dieses Bettelweib muß verrückt sein. Stella Rode war eine so nette Person, habe ich immer gefunden... und so ungewöhnlich. Sie machte so geschickte Sachen aus ein und demselben Kleid... Aber sie hatte so merkwürdige Freunde. Alles für Hans, den Holzfäller, und Pedro, den Fischer, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»War sie beliebt in Carne?«
Shane Hecht lachte liebenswürdig. »Niemand ist beliebt in Carne... aber es war nicht leicht, sie zu mögen... An Sonntagen trug sie schwarzen Krepp... Verzeihen Sie, aber tun das die unteren Klassen immer? Die Leute in der Stadt mochten sie, glaube ich. Sie schätzen ja jeden, der Carne verrät. Aber sie war ja auch Christian Science oder so was.«
»Baptistin, soviel ich weiß«, sagte Smiley gedankenlos. Sie sah ihn einen Augenblick mit unverhohlener Neugier an. »Wie süß«, murmelte sie. »Sagen Sie, was sind Sie eigentlich?«
Smiley gab eine scherzhafte Antwort, indem er sagte, er sei arbeitslos, und merkte, daß er nur um Haaresbreite vermieden hatte, sich Shane Hecht zu offenbaren wie ein kleiner Junge. Gerade ihre Häßlichkeit, ihr Umfang und ihre Stimme, verbunden mit der blasierten Bosheit ihrer Unterhaltung, gaben ihr die gefährliche Fähigkeit, andere zu beherrschen. Smiley war versucht, sie mit Fielding zu vergleichen. Aber für Fielding existierten andere Menschen kaum. Für Shane Hecht existierten sie: sie waren da, um in kleinlichen Prüfungen ihres gesellschaftlichen Verhaltens als unzulänglich erkannt, lächerlich gemacht, isoliert und vernichtet zu werden.
»Ich las in der Zeitung, daß ihr Vater ziemlich wohlhabend war. Aus dem Norden. Zweite Generation. Wirklich bemerkenswert, wie wenig verwöhnt sie war... so natürlich. Man würde nicht denken, daß sie es nötig hatte, zur Waschanstalt zu gehen oder sich mit Bettlern anzufreunden... Aber die Midlands sind natürlich anders, nicht?... Nur ungefähr drei gute Familien zwischen Ipswich und Newcastle. Woher kommen Sie, mein Bester?«
»London.«
»Wie nett. Ich war einmal bei Stella zum Tee. Zuerst die Milch in die Tasse und dann indischen Tee! So anders.« Sie sah Smiley plötzlich an und meinte: »Ich will Ihnen etwas sagen. Ich bewunderte sie fast, so unerträglich fand ich sie. Sie war eine von den lästigen kleinen Snobs, die denken, daß nur die Demütigen tugendhaft sind.« Dann lächelte sie und fügte hinzu: »Ich stimmte sogar mit Charles über Stella Rode überein, und das will etwas heißen. Wenn Sie die Menschheit studieren wollen, gehen Sie hin und betrachten Sie ihn, der Gegensatz ist fesselnd.« Doch in diesem Augenblick gesellte sich D'Arcys Schwester zu ihnen, eine knochige, männlich wirkende Frau mit unordentlichem grauen Haar und einem arroganten, gierigen Mund.
»Dorothy, Liebling«, murmelte Shane; »so eine wunderbare Party, so nett. Und so aufregend, jemand aus London zu treffen, findest du nicht? Wir sprachen gerade über das Begräbnis der armen Mrs. Rode.«
»Stella Rode hat vielleicht verdammt schlechte Manieren gehabt, Shane, aber sie hat eine Menge für meine Flüchtlinge getan.«
»Flüchtlinge?« fragte Smiley unschuldig.
»Ungarn. Sammelte für sie. Kleider, Möbel, Geld.
Eine der wenigen Frauen, die etwas taten.« Sie blickte Shane Hecht, die milde an ihr vorbei zu ihrem Mann hinüberlächelte, scharf an: »Fleißiges kleines Geschöpf war sie; machte sich nichts daraus, die Ärmel hochzukrempeln und von Tür zu Tür zu gehen. Brachte ihre kleinen Frauen in der Baptistenkapelle auch dazu und schaffte eine Menge Zeug herbei. Das muß man ihnen lassen, wissen Sie. Sie haben Unternehmungsgeist. Felix, noch einen Sherry!«
Es waren ungefähr zwanzig Personen in den zwei Räumen, aber Smiley, der etwas verspätet eingetroffen war, blieb bei einer Gruppe von ungefähr acht kleben, die der Tür am nächsten standen: D'Arcy und seine Schwester; Charles und Shane Hecht; ein junger Mathematiker namens Snow mit seiner Frau; ein Hilfsgeistlicher von der Abtei und Smiley selbst, verwirrt und maulwurfähnlich hinter seiner Brille. Smiley blickte sich rasch im Zimmer um, konnte jedoch keine Spur von Fielding entdecken.
»...Ja«, fuhr Dorothy D'Arcy fort, »sie war eine gute kleine Arbeiterin, sehr... noch bis zum Ende. Ich ging am Freitag hinüber mit diesem Pfarrersmann vom Blech-Bethaus - Cardew-, um nachzusehen, ob es da noch Flüchtlingszeug aufzuräumen gebe. Da war nichts am falschen Platz - jedes Stück, das sie hatte, war verpackt und adressiert; wir brauchten es nur abzuschicken. Sie war eine verdammt gute kleine Arbeiterin, muß ich schon sagen. Machte ihre Sache im Basar glänzend, weißt du.«
»Ja, Liebling«, sagte Shane Hecht süß. »Ich erinnere mich genau. Es war der Tag, an dem ich sie Lady Sawley vorstellte. Sie trug einen so reizenden kleinen Hut - den, den sie sonntags trug, weißt du. Und so respektvoll. Sie redete sie mit >Milady< an.« Sie wandte sich an Smiley und hauchte: »Richtig feudal, finden Sie nicht, mein Bester? Ich schätze das immer. Wir sind nur noch wenige.«
Der Mathematiker und seine Frau sprachen in einer Ecke mit Charles Hecht, und einige Minuten später gelang es Smiley, sich aus der Gruppe herauszuwinden und sich ihnen zuzugesellen.
Ann Snow war eine hübsche junge Frau mit einem etwas eckigen Gesicht und einer Stupsnase. Ihr Mann war groß und hager und hatte eine angenehm gebeugte Haltung. Er hielt sein Sherryglas zwischen geraden, schlanken Fingern, als sei es eine chemische Retorte, und wenn er sprach, schien er sich mehr an den Sherry als an den Hörer zu wenden; Smiley erinnerte sich vom Begräbnis an die beiden. Hecht sah rot und ziemlich verärgert aus, er sog an seiner Pfeife. Sie sprachen unzusammenhängend, ihre Unterhaltung wurde von dem Meinungsaustausch der Nachbargruppe übertönt. Hecht wandte sich schließlich von ihnen ab, immer noch stirnrunzelnd und in sich gekehrt, und stand betont allein bei der Tür.
»Arme Stella«, sagte Ann Snow nach einem Augenblick der Stille. »Verzeihung, ich kann sie noch nicht aus meinen Gedanken bekommen. Es scheint verrückt, einfach verrückt. Ich meine, warum sollte sie es getan haben, dieses Janie-Weib?«