»Mochten Sie Stella?« fragte Smiley.
»Natürlich. Sie war reizend. Wir sind jetzt vier Semester hier, aber sie war die einzige hier, die zu uns wirklich freundlich gewesen ist.« Ihr Mann sagte nichts, nickte nur seinem Sherry zu. »Simon war kein Carne-Schüler, sehen Sie - die meisten Lehrer waren es-, daher kannten wir niemanden, und niemand interessierte sich wirklich für uns. Sie taten selbstverständlich alle so, als seien sie furchtbar eingenommen von uns, aber es war Stella, die wirklich...«
Dorothy D'Arcy stürzte sich auf sie. »Mrs. Snow«, sagte sie energisch, »ich wollte mit Ihnen sprechen. Ich möchte, daß Sie Stella Rodes Job bei den Flüchtlingen übernehmen.« Sie warf einen abschätzenden Blick in Simons Richtung: »Der Direktor ist an den Flüchtlingen sehr interessiert.«
»Du meine Güte!« antwortete Ann Snow erschrocken. »Ich könnte nicht, unmöglich, Miss D'Arcy, ich...«
»Sie könnten nicht? Warum könnten Sie nicht? Sie haben doch Mrs. Rode bei ihrem Stand im Basar geholfen, oder?«
»Daher hat sie also ihre Kleider bekommen«, hauchte Shane hinter ihnen.
Ann verhedderte sich immer mehr:
»Aber... Nun, ich habe nicht Stellas Energie, verstehen Sie mich; und außerdem war sie Baptistin: alle Ortsansässigen halfen ihr, gaben ihr Sachen, und alle mochten sie leiden. Bei mir wäre das anders.«
»Lauter verdammter Unsinn«, erklärte Miss D'Arcy, die zu allen, die jünger waren als sie, sprach, als seien sie Bediente oder unartige Kinder; und Shane Hecht sagte neben ihr: »Baptisten sind doch die Leute, die keine eigenen Kirchenstühle mögen, nicht? Sie haben ja so recht - man hat das Gefühl, wenn man schon dafür bezahlt hat, dann muß man auch hingehen.«
Der Hilfsgeistliche, der sich in einer Ecke über Cricket unterhalten hatte, fühlte sich zu mildem Protest veranlaßt: »Nein, wirklich, Mrs. Hecht, der eigene Kirchenstuhl hatte viele Vorteile...« und ließ sich auf eine weitschweifige Apologie des alten Brauchs ein, der Shane mit allen Anzeichen eifrigster Teilnahme lauschte. Als er endlich fertig war, sagte sie: »Danke, William, mein Bester, so süß«, wandte ihm den Rücken zu und fügte für Smiley im Bühnengeflüster hinzu: »William Trumper - einer von Charles' alten Schülern - solch ein Triumph, als er sein Abitur bestand.«
Smiley, erpicht darauf, sich von Shane Hechts Rache an dem Hilfsgeistlichen zu distanzieren, wandte sich Ann Snow zu, aber diese war noch immer Miss D'Arcys karitativen Absichten ausgeliefert, und Shane redete noch immer auf ihn ein: »Der einzige Smiley, von dem ich je gehört habe, heiratete Lady Ann Sercombe am Ende des Krieges. Sie verließ ihn natürlich bald danach. Eine sehr merkwürdige Verbindung. Ich habe gehört, er habe gar nicht zu ihr gepaßt. Sie war Lord Sawleys Kusine, wissen Sie. Die Sawleys sind seit vierhundert Jahren mit Carne verbunden. Der jetzige Erbe ist ein Schüler von Charles; wir dinieren oft im Schloß. Ich habe nie gehört, was aus Ann Sercombe geworden ist... sie ging nach Afrika... oder war es Indien? Nein, es war Amerika. So tragisch. Man spricht im Schloß nicht darüber.« Einen Augenblick hörte der Lärm im Zimmer auf. Einen Augenblick, nicht länger, konnte er nichts wahrnehmen als den beharrlichen Blick, den Shane Hecht auf ihn richtete, und er wußte, daß sie auf eine Antwort wartete. Und dann ließ sie ihn los, als wollte sie sagen: Ich könnte Sie zerquetschen, sehen Sie, aber ich will's nicht. Ich werde Sie leben lassen; und sie drehte sich um und ging davon.
Er richtete es so ein, daß er zur gleichen Zeit wie Ann und Simon Snow aufbrach. Sie hatten einen alten Wagen und bestanden darauf, Smiley zu seinem Hotel zurückzubringen. Unterwegs sagte er:
»Wenn Sie nichts Besseres vorhaben, würde ich mich freuen, wenn ich Sie beide zum Dinner in meinem Hotel einladen dürfte. Ich fürchte bloß, das Essen ist gräßlich.«
Die Snows protestierten und nahmen an, und eine Viertelstunde später saßen alle drei in einer Ecke des riesigen Speisesaals im Hotel »Sawley Arms«, zur großen Verzweiflung von drei Kellnern und einem Dutzend Generationen von Lord Sawleys Ahnen, aufgedunsenen Herren in abbröckelnden Ölfarben.
»Wir lernten sie wirklich erst in unserem zweiten Semester kennen«, setzte Ann Snow fort. »Stella verkehrte nicht viel mit den anderen Frauen - sie wußte damals schon, warum. Sie ging nicht zu Kaffeegesellschaften und so weiter, daher war es ein wirkliches Glück, daß wir uns trafen. Als wir hierherkamen, war kein Lehrerhaus für uns verfügbar; wir mußten das erste Semester in einem Hotel verbringen. Am Ende unseres zweiten Semesters zogen wir in ein kleines Haus in der Bread Street. Der Umzug war ein Chaos - Simon hatte Prüfungen für die Stipendienkandidaten, und wir waren so schrecklich pleite, daß wir alles nur Mögliche selbst machen mußten. Es war ein nasser Donnerstagmorgen, als wir umzogen. Der Regen strömte nur so herunter; aber keines von unseren guten Möbelstücken wollte durch die Haustür gehen, und am Ende luden mich die Möbelpacker der Spedition Mulligan einfach an der Türschwelle ab und überließen es mir, damit fertig zu werden.« Sie lachte, und Smiley dachte, was für ein liebenswürdiges Kind sie doch war. »Sie waren absolut ekelhaft. Sie wären einfach weggefahren, glaube ich, aber sie wollten einen Scheck, sowie sie die Lieferung gemacht hatten, und die Rechnung betrug viel mehr als der Voranschlag. Ich hatte natürlich auch das Scheckbuch nicht. Simon war damit ausgegangen. Die Leute von Mulligan drohten sogar, das ganze Zeug wieder fortzubringen. Es war entsetzlich. Ich glaube, ich war den Tränen nahe.« Sie ist's beinahe jetzt noch, dachte Smiley. »Dann erschien Stella wie aus heiterem Himmel. Ich weiß nicht, woher sie überhaupt wußte, daß wir umzogen - ich bin sicher, niemand sonst wußte es. Sie hatte einen Overall und ein altes Paar Schuhe mitgebracht, und sie war gekommen, um zu helfen. Als sie sah, was vorging, kümmerte sie sich überhaupt nicht um die Männer, ging einfach zum Telefon und rief Mr. Mulligan selbst an. Ich weiß nicht, was sie ihm sagte, aber sie ließ den Vorarbeiter hinterher mit ihm sprechen, und danach gab es keinen Ärger mehr. Sie war schrecklich glücklich - glücklich zu helfen. So ein Mensch war sie. Sie hoben kurzerhand die Tür aus den Angeln und bekamen es fertig, alles hineinzuschaffen. Sie verstand es wunderbar zu helfen, ohne zu kommandieren. Die übrigen Frauen«, fügte sie bitter hinzu, »sind gut im Kommandieren, helfen aber überhaupt nicht.«
Smiley nickte und füllte diskret ihre Gläser.
»Simon geht«, sagte Ann, plötzlich vertraulich. »Er hat ein Stipendium, und wir gehen nach Oxford zurück. Er wird seinen Dr. phil. machen und eine Stelle an der Universität bekommen.«
Sie tranken auf seinen Erfolg, und die Unterhaltung wandte sich anderen Dingen zu, bis Smiley fragte: »Wie ist es denn, mit Rode zu arbeiten?«
»Er ist ein guter Lehrer«, sagte Simon langsam, »aber unangenehm als Kollege.«
»Oh, er war ganz anders als Stella«, sagte Ann; »schrecklich Carne-bewußt. D'Arcy nahm sich seiner an, und er wurde davon angesteckt. Simon sagt, alle Leute aus öffentlichen Schulen werden so - es ist die Wut des Konvertiten. Widerlich. Er wechselte sogar seine Religion, als er nach Carne kam. Aber Stella tat es nicht; sie dachte nicht im Traum daran.«
»Die Staatskirche hat in Carne viel zu bieten«, bemerkte Simon, und Smiley erfreute sich an der trockenen Präzision seiner Äußerung.
»Stella ist wohl nicht besonders gut mit Shane Hecht ausgekommen?« sondierte Smiley sanft.
»Natürlich nicht!« erklärte Ann zornig. »Shane war ekelhaft zu ihr, verhöhnte sie immer, weil sie ehrlich und schlicht über das sprach, was ihr gefiel. Shane haßte Stella - ich glaube deswegen, weil Stella gar keine distinguierte Lady sein wollte. Sie war ganz zufrieden, sie selbst zu sein. Genau das irritierte Shane. Shane hat es gern, wenn die Menschen miteinander konkurrieren, so daß sie sie lächerlich machen kann.«
»Das tut auch Carne«, sagte Simon leise.