Oder was? Oder jemand anders, jemand, der nicht Stella Rode war, verpackte die Kleidungsstücke, nachdem Stella Rode gestorben und ehe Dorothy D'Arcy und Mr. Cardew am Freitagmorgen nach North Fields gekommen waren. Und warum, zum Teufel, dachte Smiley, sollte jemand das tun?
Es war eines von Smileys Grundprinzipien bei Nachforschungen gewesen, ob er sich mit den Inkunabeln eines obskuren Dichters oder den mühsam gesammelten Bruchstücken der Spionage befaßte, nicht weiter zu gehen, als das Beweismaterial reichte. Hatte man einmal eine Tatsache logisch festgestellt, dann durfte man ihr nicht mehr Bedeutung beimessen, als ihr zukam. Dementsprechend spekulierte er nicht weiter über die bemerkenswerte Entdeckung, die er gemacht hatte, sondern wandte sich der am schwersten zugänglichen Seite des Ganzen zu: dem Motiv für den Mord. Er begann zu schreiben:
Dorothy D'Arcy - Groll nach Flüchtlingsfiasko. Als Motiv für Mord - entschieden zu schwach. Und doch, warum schien sie solchen Wert darauf zu legen, Stellas Lob zu singen?
Felix D'Arcy - lehnte Stella ab, weil sie die Maßstäbe von Carne nicht beachtete. Als Motiv für Mord - lächerlich.
Shane Hecht - Haß.
Terence Fielding - in einer geistig normalen Welt, kein denkbares Motiv.
Aber war es eine geistig normale Welt? Jahraus, jahrein mußten sie das gleiche Leben teilen, den gleichen Leuten das gleiche sagen, die gleichen Hymnen singen. Sie hatten kein Geld, keine Hoffnung. Die Welt veränderte sich, die Mode; die Frauen sahen es aus zweiter Hand in den Magazinen; verkürzten ihre Kleider, steckten die Haare auf und haßten ihre Männer noch etwas mehr. Shane Hecht - tötete sie Stella Rode? Verbarg sie in der sterilen Allwissenheit ihres gewaltigen Körpers nicht nur Haß und Eifersucht, sondern auch den Mut zu töten? Hatte sie Angst für ihren dummen Mann, Angst vor Rodes Beförderung, vor seiner Klugheit? War sie wirklich so zornig, als Stella es ablehnte, sich an dem gemeinsamen Wettkampf um Vornehmheit zu beteiligen?
Rigby hatte recht - das zu wissen war unmöglich. Man mußte krank, mußte bettlägerig sein, um das zu verstehen, man mußte dort im Sanatorium sein, nicht wochen-, sondern jahrelang, mußte eines in der Reihe der weißen Betten sein, um den Geruch ihres Essens und die Gier in ihren Augen zu kennen. Man mußte es hören und sehen, ein Teil davon sein, um ihre Spielregeln zu kennen und ihre Übertretungen dieser Regeln zu begreifen. Diese Welt war in eine Form anomaler Konventionen zusammengepreßt: blind, pharisäerhaft, aber real.
Und doch zeichnete sich einiges deutlich genug ab: die seltsame Bindung, die Felix D'Arcy und Terence Fielding trotz ihrer gegenseitigen Abneigung aneinanderkettete; D'Arcys Widerstreben, über die Mordnacht zu sprechen; daß Fielding offenkundig Stella Rode ihrem Mann gegenüber vorzog; Shane Hechts Geringschätzung aller.
Er konnte Shane nicht aus seinen Gedanken verdrängen. Wäre Carne ein rationaler Ort gewesen und jemand mußte dort sterben, dann hätte es eigentlich Shane Hecht sein müssen. Sie speicherte die Geheimnisse anderer Leute, sie hatte einen untrüglichen Sinn für ihre Schwächen. Hatte sie nicht sogar Smiley ertappt? Sie hatte ihn mit seiner unglücklichen Heirat verspottet, sie hatte zu ihrem eigenen Vergnügen mit ihm gespielt. Ja, sie war als mögliches Opfer eines Mordes großartig geeignet.
Aber warum, in aller Welt, mußte Stella Rode sterben? Warum und wie? Wer verschnürte das Paket nach ihrem Tod? Und warum?
Er versuchte zu schlafen, aber er konnte es nicht. Als die Abteiglocke drei schlug, machte er schließlich wieder Licht und setzte sich auf. Das Zimmer war viel wärmer, und zuerst dachte Smiley, ob wohl jemand mitten in der Nacht die Zentralheizung angestellt hatte, nachdem sie den ganzen Tag nicht in Betrieb gewesen war. Dann nahm er das Rauschen des Regens wahr; er ging zum Fenster und zog die Vorhänge zurück. Ein stetiger Regen fiel; bis morgen würde der Schnee fortgewaschen sein. Zwei Polizisten gingen langsam die Straße hinunter; er konnte das Platschen ihrer Stiefel hören, als sie in den schmelzenden Schnee traten. Ihre nassen Umhänge schimmerten im Lichtkegel der Straßenlampe.
Und plötzlich schien er Rigbys Stimme zu hören: »Überall Blut. Wer sie auch getötet hat, muß davon bedeckt gewesen sein.« Und dann die Verrückte Janie, die ihm über den mondhellen Schnee zurief: »Janie hat ihn gesehen... Silberflügel wie Fische... fliegend auf dem Wind... nicht viele haben den Teufel fliegen sehn...« Natürlich, das Paket! Er blieb lange am Fenster und starrte in den Regen hinaus. Schließlich stieg er, nun doch zufrieden, ins Bett zurück und schlief ein.
Er versuchte den ganzen Morgen, Miss Brimley anzurufen. Jedesmal war sie ausgegangen und hatte keine Nachricht hinterlassen. Gegen Mittag erreichte er sie endlich.
»George, es tut mir furchtbar leid - irgendein Missionar ist in London - ich mußte wegen eines Interviews hingehen und habe diesen Nachmittag eine Baptistenkonferenz. Beides muß in dieser Woche sein! Genügt es morgen als erstes?«
»Ja«, sagte Smiley. »Sicher.« Es gab keine besondere Eile. Da waren sowieso ein oder zwei offene Fragen, die er an diesem Nachmittag erledigen wollte.
UNGEMÜTLICHE WORTE
Die Autobusfahrt amüsierte ihn. Der Fahrer war ein sehr griesgrämiger Mann, der über die Busgesellschaft und die Ursachen ihres Defizits allerhand zu sagen hatte. Von Smiley sanft ermutigt, taute er immer mehr auf, so daß er bei ihrer Ankunft in Sturminster die Direktoren der Allgemeinen Verkehrsgesellschaft von Dorsetshire in eine Herde von Schweinen der Gadarener verwandelt hatte, die dem Abgrund freiwilligen Bankrotts zustürmten. Der Chauffeur wies Smiley den Weg zum Zwinger von Sturminster, und als er in dem winzigen Dorf ausstieg, machte er sich zuversichtlich zu einer Gruppe von Katen auf den Weg, die etwa vierhundert Meter hinter der Kirche an der Okeford-Straße standen.
Er hatte das unangenehme Gefühl, daß er Mr. Harriman nicht sympathisch finden werde. Allein die Tatsache, daß D'Arcy ihn als einen überragenden Könner bezeichnet hatte, nahm Smiley gegen ihn ein. Smiley war nicht gegen gesellschaftliche Unterschiede, aber er machte sie gern selbst.
Am Eingang stand ein Schild: »Sturminster-Zwinger, Inhaber C.J. Reid-Harriman, Dipl.-Veterinär, Züchter von Schäfer- und Labradorhunden. Pension.«
Ein schmaler Weg führte zu so etwas wie einem Hinterhof. Überall hing Wäsche, Hemden, Unterzeug, das meiste in Khaki. Es roch kräftig nach Hunden. Smiley sah einen verrosteten Pumpbrunnen, etwa ein Dutzend Hundeleinen darüber drapiert, und ein kleines Mädchen. Sie beobachtete ihn traurig, während er sich durch den dicken Schmutz einen Weg zur Tür suchte. Er zog die Klingelschnur und wartete, versuchte es nochmals, bis das Kind sagte:
»Geht nicht. Ist kaputt. Ist seit Jahren kaputt.«
»Ist irgend jemand zu Hause?« fragte Smiley.
»Ich seh' mal nach«, erwiderte es kühl, bog nach einem weiteren langen Blick auf ihn um die Ecke und verschwand. Dann hörte Smiley aus dem Inneren des Hauses ein Geräusch; es näherte sich jemand, und einen Augenblick später öffnete sich die Tür.
»Schönen guten Tag.« Der Mann hatte sandfarbenes Haar und einen Schnurrbart. Er trug ein Khakihemd und einen Khakischlips von hellerem Ton, alte Militärhosen und eine Tweedjacke mit Lederknöpfen.
»Mr. Harriman?«
»Major«, entgegnete er leichthin. »Aber spielt keine Rolle, alter Junge. Was können wir für Sie tun?«
»Ich möchte einen Schäferhund kaufen«, antwortete Smiley, »als Wachhund.«
»Sicher. Kommen Sie bitte herein. Die Gnädige ist aus. Ignorieren Sie das Kind; ist von nebenan. Lungert nur hier herum; hat die Hunde gern.«