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Clive S. Lewis

Ein Schiff aus Narnia

Ein phantastisches Abenteuer

Mit Illustrationen von Rolf Rettich

1. Das Bild im Schlafzimmer

Es war einmal ein Junge namens Eustachius Knilch, und diesen Namen hatte er fast verdient. Seine Eltern nannten ihn Eustachius, und seine Lehrer nannten ihn Knilch. Ich kann euch nicht sagen, wie ihn seine Freunde nannten, denn er hatte keine. Seinen Vater und seine Mutter nannte er nicht »Vater« und »Mutter«, sondern Harold und Alberta. Es waren sehr moderne und fortschrittliche Leute. Sie waren Vegetarier, Nichtraucher und Antialkoholiker, und sie trugen eine besondere Art Unterwäsche. In ihrem Haus gab es sehr wenig Möbel, auf den Betten lagen sehr wenig Decken, und die Fenster waren immer offen.

Eustachius mochte gerne Tiere – vor allem Käfer, wenn sie tot und auf Karton aufgespießt waren. Er mochte gerne Bücher, wenn es Sachbücher waren und wenn sie Bilder von Getreidehebern enthielten und von dicken ausländischen Kindern, die in Modellschulen unterrichtet wurden.

Seine Cousins und Cousinen, Peter, Suse, Edmund und Lucy, mochte Eustachius nicht. Aber er war froh, als er hörte, daß Edmund und Lucy zu einem längeren Besuch kommen sollten. Denn im geheimen liebte er es, andere herumzukommandieren und zu schikanieren; und obwohl er ein schwächlicher kleiner Kerl war, der in einem Streit nicht einmal mit Lucy – und noch viel weniger mit Edmund – fertig geworden wäre, so wußte er doch, daß es Dutzende von Möglichkeiten gab, andere zu ärgern, wenn man bei sich zu Hause war und die anderen nur auf Besuch.

Edmund und Lucy hatten überhaupt keine Lust, bei Onkel Harold und Tante Alberta zu bleiben. Aber es gab wirklich keine andere Möglichkeit. Vater hatte für diesen Sommer eine viermonatige Lehrtätigkeit in Amerika übernommen, und Mutter wollte ihn begleiten, weil sie seit zehn Jahren keinen richtigen Urlaub mehr gemacht hatte. Peter bereitete sich gerade sehr intensiv auf ein Examen vor und sollte dabei in den Ferien von dem alten Professor Kirke unterstützt werden, in dessen Haus die vier Kinder vor langer Zeit, während der Kriegsjahre, wunderschöne Abenteuer erlebt hatten. Wenn der Professor noch immer in diesem Haus gelebt hätte, dann würde er alle miteinander eingeladen haben. Aber er war inzwischen verarmt und wohnte in einem kleinen Haus, in dem nur ein einziges zusätzliches Zimmer zur Verfügung stand. Es hätte zuviel Geld gekostet, die drei Kinder nach Amerika mitzunehmen, deshalb war nur Suse mitgekommen. Die Erwachsenen hielten sie für die hübscheste der Familie, und sie war nicht gut in der Schule (obwohl sie sonst für ihr Alter schon recht erwachsen war), und Mutter sagte, sie hätte sehr viel mehr von einer Reise nach Amerika als ihre jüngeren Geschwister. Edmund und Lucy bemühten sich, Suse um ihr Glück nicht zu beneiden, doch es war schrecklich für sie, daß sie die Sommerferien bei ihrer Tante verbringen mußten. »Aber für mich ist es viel schlimmer«, sagte Edmund, »weil du wenigstens ein eigenes Zimmer hast, während ich meines mit diesem Oberstinker Eustachius teilen muß.«

Die Geschichte beginnt an einem Nachmittag, an dem Edmund und Lucy ein paar kostbare Minuten allein verbrachten. Und natürlich redeten sie über Narnia. So hieß nämlich ihr ureigenstes, privates und geheimes Land. Ich nehme an, daß wir fast alle ein geheimes Land haben, aber für die meisten von uns existiert es nur in der Vorstellung. Edmund und Lucy hatten in dieser Hinsicht mehr Glück als andere. Ihr geheimes Land gab es wirklich. Sie waren schon zweimal dort gewesen, nicht im Spiel oder im Traum, sondern richtig. Natürlich waren sie durch Zauberei hingelangt, denn das ist die einzige Möglichkeit, Narnia zu erreichen. Und in Narnia war ihnen versprochen worden – oder zumindest fast –, daß sie eines Tages zurückkommen würden. Ihr könnt euch vorstellen, daß sie oft darüber redeten, wenn sie Gelegenheit dazu hatten.

Sie waren in Lucys Zimmer, saßen auf dem Rand ihres Bettes und schauten auf ein Bild an der gegenüberliegenden Wand. Es war das einzige Bild im Haus, das ihnen gefiel. Tante Alberta gefiel es überhaupt nicht (deshalb hing es hier in dem kleinen Hinterzimmer im oberen Stock), aber sie konnte es nicht wegwerfen, weil es ein Hochzeitsgeschenk von jemand gewesen war, den sie nicht verletzen wollte.

Es war das Bild eines Schiffes – und wenn man vor dem Bild stand, dann segelte das Schiff fast kerzengerade auf einen zu. Der Bug war vergoldet, und er war geformt wie ein Drachenkopf mit weitoffenem Maul. Das Schiff hatte nur einen Mast und ein großes, viereckiges Segel in kräftigem Lila. Die Bordwände des Schiffes – das, was man hinter den vergoldeten Flügeln des Drachen davon sehen konnte – waren grün. Es schwebte gerade ganz oben auf dem Kamm einer herrlichen blauen Welle. Offensichtlich segelte es rasch vor einem kräftigen Wind, und es war ein wenig nach backbord geneigt. (Übrigens – wenn ihr diese Geschichte lesen wollt und falls ihr es noch nicht wißt, dann merkt euch am besten gleich, daß die linke Seite des Schiffes, wenn man nach vorne schaut, Backbord genannt wird und die rechte Seite Steuerbord.) Von dort fiel auch die Sonne auf das Schiff, und das Wasser auf dieser Seite war voll mit grünen und lilafarbenen Flecken. Auf der anderen Seite war es vom Schatten des Schiffes dunkelblau.

»Die Frage ist«, sagte Edmund, »ob es die Sache nicht noch schlimmer macht, wenn man ein Schiff aus Narnia anschaut und es nicht erreichen kann.«

»Anschauen ist besser als gar nichts«, sagte Lucy. »Und es ist wirklich ausgesprochen narnianisch.«

»Spielt ihr noch immer euer altes Spiel?« fragte Eustachius, der draußen vor der Tür gelauscht hatte und jetzt grinsend hereinkam. Als er Peter, Suse, Edmund und Lucy im vorigen Jahr besucht hatte, hatte er mit angehört, wie sie von Narnia geredet hatten, und es machte ihm großen Spaß, sie damit zu necken. Er dachte natürlich, sie hätten sich alles nur ausgedacht; und weil er selbst viel zu dumm war, sich etwas auszudenken, gefiel ihm das überhaupt nicht.

»Du bist unerwünscht hier«, sagte Edmund kurz.

»Ich versuche gerade, mir einen Reim auszudenken«, sagte Eustachius.

»Etwa so: Die Kinder, die ewig träumen von Narnia, werden von Tag zu Tag alberner ...!«

»Also zuallererst einmal reimen sich ›Narnia‹ und ›alberner‹ nicht«, sagte Lucy.

»Es ist eine Assonanz«, sagte Eustachius.

»Frag ihn bloß nicht, was eine Asso-Dingsbums ist«, sagte Edmund. »Er wartet nur darauf, gefragt zu werden. Sag nichts, dann geht er vielleicht wieder.«

Fast jeder Junge wäre bei einem derartigen Empfang wieder gegangen, oder er hätte sich aufgeregt. Aber Eustachius tat keins von beiden. Er ging herum und grinste, und dann sagte er: »Gefällt euch das Bild?«

»Gib ihm um Himmels willen keine Gelegenheit, über Kunst und all das zu reden«, sagte Edmund rasch, aber Lucy, die sehr ehrlich war, hatte schon gesagt: »Ja. Es gefällt mir gut.«

»Es ist ein abscheuliches Bild«, sagte Eustachius.

»Wenn du hinausgehst, siehst du es nicht mehr«, sagte Edmund.

»Warum gefällt es dir?« sagte Eustachius zu Lucy.

»Also, zuerst einmal«, antwortete Lucy, »gefällt es mir, weil es so aussieht, als würde sich das Schiff tatsächlich bewegen. Und das Wasser sieht so aus, als wäre es tatsächlich naß. Und die Wellen sehen so aus, als gingen sie tatsächlich auf und nieder.«

Natürlich hatte Eustachius viele Antworten parat, aber er sagte nichts. Denn genau in diesem Moment schaute er die Wellen an und sah, daß es tatsächlich so aussah, als bewegten sie sich auf und nieder. Er war erst einmal auf einem Schiff gefahren (und nur bis zur Insel Wight), und damals war er schrecklich seekrank geworden. Und jetzt, wo er die Wellen anschaute, wurde ihm wieder schlecht. Er wurde etwas grün im Gesicht, doch dann riskierte er noch einen Blick. Und dann starrten alle drei Kinder das Bild mit offenem Mund an.

Was sie sahen, klingt ziemlich unwahrscheinlich, wenn man es liest, aber es war fast genauso unwahrscheinlich, wenn man es tatsächlich vor sich sah. Die Gegenstände auf dem Bild bewegten sich. Es sah auch überhaupt nicht so aus wie ein Film; dafür waren die Farben zu wirklich, zu klar und zu natürlich. Der Bug tauchte in die Welle, und riesige Wassermassen schäumten empor. Dann hob sich die Welle hinter dem Schiff, und zum ersten Mal waren Heck und Deck zu sehen. Doch beides verschwand wieder, als das Schiff auf die nächste Welle traf und der Bug sich wieder hob. Im gleichen Moment begannen die Blätter eines Schulhefts, das neben Edmund auf dem Bett lag, wild zu flattern. Es erhob sich in die Luft und segelte zu der Wand hinter ihm. Lucy spürte, wie ihre Haare durchgewirbelt wurden, so wie an einem windigen Tag. Und dies war ein windiger Tag; aber der Wind blies aus dem Bild heraus auf sie zu. Und mit dem Wind kamen plötzlich auch die Geräusche – das Plätschern der Wellen, das Klatschen des Wassers gegen die Bordwände des Schiffes, das Knarren und das alles übertönende Brausen von Wind und Wasser. Aber es war der Geruch, der wilde, salzige Geruch, der Lucy überzeugte, daß sie nicht träumte.