Während er noch sprach, hatte Fidelma die Gliedmaßen und Hände der Leiche genauer untersucht, wobei sie sich besonders für die Finger und die Fingernägel interessierte. Schließlich richtete sie sich auf. «Habt Ihr irgendwelche Hinweise auf einen Kampf bemerken können, Cornelius?»
Der Medikus schüttelte den Kopf.
«Und in welcher Haltung habt Ihr den Leichnam vorgefunden?»
«Soweit ich mich erinnere, lag er mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett - oder vielmehr, der Rumpf lag auf dem Bett, während die Schienbeine den Boden berührten. Es sah aus, als hätte er neben dem Bett gekniet.»
Fidelma sah ihn nachdenklich an. «Dann laßt uns jetzt in Wighards Gemächer gehen. Es ist wichtig, daß ich die genaue Lage des Leichnams kenne.»
Furius Licinius räusperte sich. «Soll ich decurion Marcus Narses bitten, ebenfalls ins Gästehaus zu kommen, Schwester? Er war derjenige, der die Leiche gefunden und auch den Mörder festgenommen hat.»
Fidelma bedachte ihn mit einem ärgerlichen Blick.
«Ihr meint, er hat Bruder Ronan festgenommen», wies sie ihn sanft zurecht. «Ja, auf jeden Fall. Dieser Marcus Narses soll sich in Wighards Gemächern einfinden. Geht und sucht ihn. Cornelius wird uns zum Tatort geleiten.»
Fidelmas Annahme, er würde ihren Befehlen selbstverständlich Folge leisten, veranlaßte den Medikus zu einem wütenden Schnauben, doch er widersprach nicht. «Also dann, hier entlang.»
Sie verließen das mortuarium durch ein Labyrinth von offenen Gängen und dunklen Korridoren, bis sie schließlich auf einen hübschen Innenhof mit einem plätschernden Brunnen hinaustraten. Cornelius führte Fidelma und Eadulf über den Hof auf ein dreistöckiges Gebäude zu, bei dem es sich eindeutig um das domus hospitale des Lateranpalasts handelte - das Haus also, in dem der Bischof von Rom seinen persönlichen Gästen Unterkunft gewährte. Über eine große Marmortreppe gelangte man nach oben. Im dritten Stock blieb Cornelius im Korridor stehen. Ein custos stand Wache vor einer Tür, trat aber bereitwillig zur Seite, als er Cornelius erkannte.
Hinter der Tür befand sich ein behagliches Wohnzimmer und dahinter das Schlafgemach des verstorbenen Erzbischofs. Beide Zimmer hatten hohe Fenster, von denen aus man auf den sonnenbeschienenen Innenhof sah.
Cornelius ging voraus ins Schlafgemach.
Wie Fidelma bemerkte, entsprach die Einrichtung der Räume dem Prunk im übrigen Lateranpalast. Die Wände waren mit prächtigen Behängen geschmückt, die Fliesen mit dicken Teppichen bedeckt. Alles in allem unterschieden sich diese Räumlichkeiten sehr von den kargen, engen cubi-cula, die sie aus ihrem Klosterleben kannte. Das große Holzbett war mit kunstvollen Schnitzereien verziert, die eine Vielzahl religiöser Symbole darstellten. Die Überdecke war zerknittert, doch es sah ganz so aus, als habe niemand in dem Bett geschlafen oder es überhaupt für die Nacht vorbereitet. Nur auf dem unteren Teil des Bettes schien jemand gelegen zu haben.
Es war die Stelle, auf die jetzt auch Cornelius deutete. «Wighard lag mit dem Gesicht nach unten am Fußende des Bettes.»
«Könnt Ihr uns die Haltung einmal zeigen?» fragte Fidelma.
Cornelius schien über diese Aufforderung alles andere als erfreut. Dennoch ging er vor dem Fußende des Bettes auf die Knie und ließ seinen Rumpf auf die Matratze gleiten.
Nachdenklich sahen Fidelma und Eadulf ihm zu.
«Könnte es sein, daß Wighard betend vor seinem Bett kniete, als sein Mörder hereinkam und ihm die Gebetsschnur um den Hals legte?» fragte Eadulf.
«Das wäre schon möglich», antwortete Fidelma zögernd. «Aber in dem Fall hätte er seine Gebetsschnur entweder in der Hand gehalten oder um seinen Bauch getragen. Wir wissen aber, daß der Mörder rasch gehandelt haben muß, so rasch, daß Wighard gar nicht erst dazu kam, sich zu wehren. Offenbar hat der Mörder sich schon vorher in den Besitz der Schnur gebracht, denn einen Kampf hat es nicht gegeben.»
Eadulf stimmte zögernd zu.
«Kann ich aufstehen?» fragte Cornelius, dem die Haltung offenbar unbequem war, mit mißmutiger Stimme.
«Natürlich», erwiderte Fidelma schuldbewußt. «Ihr habt uns sehr geholfen, Medikus. Ich glaube nicht, daß wir Eure Dienste noch weiter beanspruchen müssen.»
Laut schnaubend erhob sich Cornelius von dem Bett.
«Und was ist mit der Leiche? Seine Heiligkeit beabsichtigt, gegen Mittag für Wighard ein Requiem in der Basilika zu halten. Danach wird seine Leiche zum Metronia-Tor gebracht und auf dem christlichen Friedhof außerhalb der aurelianischen Mauer begraben werden.»
«Ein so rasches Begräbnis?»
«So ist es in diesem Land nun einmal Sitte.»
«Bei der großen Hitze sind Beerdigungen zum frühestmöglichen Zeitpunkt der öffentlichen Gesundheit zuträglich», erklärte Eadulf.
Fidelma nickte geistesabwesend, den Blick starr auf die zerknitterte Überdecke gerichtet. Dann sah sie auf und lächelte Cornelius freundlich an. «Ich brauche den Leichnam nicht noch einmal zu sehen. Der Heilige Vater kann die Beerdigung nach seinem Belieben veranlassen.»
An der Tür blieb Cornelius zögernd stehen. Offenbar wollte er nichts verpassen. «Kann ich noch irgend etwas ...?»
«Nein», entgegnete Fidelma mit Nachdruck und wandte sich wieder Wighards Bettstatt zu.
Der alexandrinische Chirurgus schnaubte, drehte sich um und verließ das Zimmer.
Neugierig beobachtete Eadulf, wie Fidelma das Bett noch einmal eingehend betrachtete. «Habt Ihr etwas gesehen, Fidelma?»
Die irische Schwester schüttelte den Kopf. «Aber es gibt etwas, das ich noch nicht verstehe. Etwas, das . » Sie hielt inne und schüttelte den Kopf. «Morann von Tara, mein alter Meister, sagte immer: Mutmaße nichts, ehe du nicht alles weißt, was es in Erfahrung zu bringen gibt.»
«Ein weiser Mann», sagte Eadulf.
«So weise, daß er zum obersten Richter Irlands berufen wurde», meinte Fidelma nickend. Sie deutete auf das Fußende des Bettes. «Bisher haben wir also Wighard, der vor seinem Bett stand oder kniete und angesichts der späten Stunde dabei war, sich auf die Nachtruhe vorzubereiten. Wollte er gerade die Decke zurückschlagen und sich zum Schlafen auskleiden, oder kniete er betend vor seinem Bett?»
Nachdenklich starrte sie auf die Decke, als erwarte sie von ihr die entscheidende Eingebung.
«Was auch immer er gerade tat, wir müssen davon ausgehen, daß er der Tür den Rücken zugewandt hatte. In diesem Augenblick tritt sein Mörder ein, und zwar so leise, daß Wighard keinerlei Verdacht schöpft, ja, sich nicht einmal zu ihm umdreht. Und dann ist dieser Mörder auch noch in der Lage, sich Wighards Gebetsschnur zu greifen und ihn so rasch zu erdrosseln, daß es zu einem Kampf gar nicht mehr kommen kann.»
«Nach dem, was wir bisher wissen, muß es ungefähr so gewesen sein», stimmte Eadulf zu. «Vielleicht sollten wir jetzt mit diesem Bruder Ronan sprechen und sehen, ob er Licht ins Dunkel bringen kann.»
«Bruder Ronan kann ruhig noch einen Augenblick warten», erwiderte Fidelma und sah sich im Zimmer um. «Bischof Gelasius sagte, die Geschenke, die Wighard für den Heiligen Vater mitgebracht hatte, seien in der Mordnacht gestohlen worden. Ihr als Wighards Sekretär müßtet doch wissen, wo die Geschenke aufbewahrt wurden, Eadulf.»
Der sächsische Mönch deutete auf die Tür zum Wohnzimmer. «Sie waren in einer großen Truhe verstaut.»
Gemeinsam kehrten sie in das erste Zimmer zurück, in dessen einer Ecke eine große, eisenbeschlagene Truhe stand. Der Deckel war offen, die Truhe vollkommen leer.
«Was wurde in der Truhe aufbewahrt, Eadulf? Wißt Ihr darüber Bescheid?»