Fidelmas Neugier war geweckt. «Puttoc hat Eanred gekauft?»
«Ja, Eanred war Sklave, und Puttoc hat einen ziemlich hohen Preis für ihn bezahlt. Anschließend hat er ihm in Übereinstimmung mit den Lehren der Heiligen Kirche die Freiheit geschenkt. Aber Eanred betrachtet sich immer noch als Puttocs Leibeigener, auch wenn er im Grunde ein freier Mann ist.»
«Wißt Ihr Näheres darüber, wie es zu diesem Kauf gekommen ist, Sebbi?» fragte Fidelma.
«Ja, ich war selbst zugegen. Es war zu der Zeit, als Swithhelm über die Ostsachsen herrschte und sich nur wenige in seinem Königreich an den Glauben hielten. Es ist inzwischen wohl sieben Jahre her, daß Puttoc beschloß, das Land zu bereisen und die verlorenen Schafe an den einen, wahren Gott zu gemahnen. Da ich in Ostsachsen aufgewachsen bin - ja, ich bin sogar nach Prinz Sebbi benannt, der heute das Land regiert -, wählte Abt Puttoc mich zu seinem Reisegefährten. Als wir Swithhelms Hof erreichten, wurde gerade Eanreds Hinrichtung vorbereitet.»
Sebbi hielt inne. Als er sah, daß sie ihm gebannt lauschten, fuhr er fort: «Im Gespräch mit Swithhelm stellte sich heraus, daß der König den bevorstehenden Tod des Sklaven sehr bedauerte, denn Eanred genoß einen hervorragenden Ruf als kräuterkundiger Heiler. Wenn jedoch ein Sklave seinen Herrn tötet, gibt es keine andere Wahl. Er muß die Tat mit seinem Tod sühnen, es sei denn, jemand anders entschädigt die Familie des Ermordeten, indem er das wergild bezahlt und den Sklaven dadurch erwirbt. Wer will allerdings einen Sklaven kaufen, der seinen früheren Herrn ermordet hat?»
«Eanred war Swithhelms Sklave?» fragte Fidelma.
«Oh, nein. Eanred gehörte einem Bauern namens Fobba vom Nordufer des Flusses Tamesis.»
«Und wie ist Eanred in die Sklaverei geraten?» fragte Eadulf «Wurde er gefangengenommen oder schon als Sklave geboren?»
«Seine Eltern haben ihn während einer der großen Hungersnöte in die Sklaverei verkauft, um das eigene Überleben zu sichern», erklärte Sebbi. «In unserem Land wird ein Sklave behandelt wie jede andere Ware, mit der sich ein gewinnbringender Handel treiben läßt.» Er grinste, als er Fidelmas angewiderten Gesichtsausdruck sah. «Ich weiß, der Glaube verabscheut die Sklaverei, aber das Gesetz der Sachsen ist älter als der Glaube, und der Kirche bleibt nichts anderes übrig, als billigend in Kauf zu nehmen ...»
Fidelma machte eine ungeduldige Handbewegung. Sie hatte oft genug von den Schwierigkeiten gehört, mit denen die irischen Missionare bei der Bekehrung der heidnischen Sachsen zu kämpfen hatten. Es war erst siebzig Jahre her, daß die Sachsen begonnen hatten, sich von ihren kriegerischen Göttern abzuwenden und sich zum Christentum zu bekennen. Viele klammerten sich noch an ihre alten Überzeugungen, und vielerorts vermischten sich christliche und heidnische Sitten.
«Eanred ist also als Sklave aufgewachsen und hat später seinen Herrn umgebracht?»
«So war es. Puttoc, der, was seine Gesundheit betraf, schon immer sehr empfindlich war und stets nach neuen Mitteln gegen seine zahlreichen Beschwerden suchte, wurde sofort hellhörig. Eanred, scheinbar begriffsstutzig und von schlichtem Gemüt, sei, so sagte man uns, ein Genie, wenn es um heilende Kräuter und Pflanzen ging. Aus dem gesamten Königreich seien die Menschen zu Fobbas tun geströmt und hätten Fobba für Eanreds Arzneien die höchsten Preise bezahlt.
Puttoc machte dem König der Ostssachsen daraufhin einen Vorschlag: Der König sollte die Hinrichtung um einen Tag verschieben. Wenn es Ean-red gelänge, ihm am Abend einen Trunk zu mischen, der ihm einen ungestörten Nachtschlaf brächte, wäre er, Puttoc, bereit, Eanred zu kaufen und das wergild zu bezahlen.»
«Was ist dieses wergild, von dem Ihr da sprecht?» fragte Fidelma.
«Das ist der Geldwert, der mit dem Rang eines Menschen verbunden ist», erklärte Eadulf, der frühere gerefa, oder Friedensrichter. «Mit Hilfe dieses Wertes kann der gerefa, die Höhe der Entschädigung festsetzen, die der Familie eines Ermordeten zu zahlen ist. Einem adligen eorlcund zum Beispiel steht ein wergild von dreihundert Schillingen zu.»
«Verstehe. In Irland haben wir etwas Ähnliches. Die Strafe, die wir eric nennen, entspricht dem ene-clann, dem mit einem bestimmten Rang verbundenen <Preis der Ehre>. Wird jemand eines Verbrechens oder Vergehens für schuldig befunden, sinkt dieser Preis. Ja, ich glaube, ich verstehe jetzt, worum es bei diesem wergild geht. Ihr könnt fortfahren, Bruder Sebbi.»
Zufrieden über ihr neues Wissen, lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück.
«Nun», griff Sebbi seinen Faden wieder auf, «der König war mit Puttocs Vorschlag nur allzu einverstanden. Zweifellos rechnete er sich aus, daß bei diesem Handel, wenn er denn zustande käme, auch für ihn ein hübsches Sümmchen abfallen würde. Eanred wurde aus seiner Zelle geholt und angewiesen, Abt Puttoc einen Schlaftrunk zu bereiten. Am nächsten Morgen trat Puttoc voller Begeisterung vor den Thron des Königs. Der Schlaftrunk hatte gewirkt. Fobbas Familie wurden gerufen und forderte ein wergild von einhundert Schillingen. Zusätzlich mußte Puttoc fünfzig Schillinge als Kaufpreis für Eanred zahlen.»
Eadulf pfiff leise durch die Zähne. «Einhundertfünfzig Schillinge! Das ist eine hohe Summe», bemerkte er. «Woher hatte Abt Puttoc das Geld?»
Mit einem vertraulichem Augenzwinkern beugte Sebbi sich vor.
«Die Kirche tritt für die Befreiung von Sklaven und das Ende des Sklavenhandels ein. Sie braucht Sklaven, deren Freilassung sie als öffentlichen Akt der Nächstenliebe preisen kann. Dieser Akt der Nächstenliebe wurde vom Kloster bezahlt, und Eanreds Name wurde in die Liste der vom Kloster freigekauften Sklaven aufgenommen.»
«Trotzdem ist das eine hohe Summe.»
«Die Summe entspricht dem Gesetz», erwiderte Sebbi. «Das wergild ist festgelegt.»
«Aber wer einen Sklaven kauft, braucht normalerweise kein wergild zu bezahlen», wandte Eadulf ein.
«Puttoc hat Eanreds Wert eben sehr hoch angesetzt.»
«Eanred wurde also von Puttoc gekauft und befreit», faßte Fidelma zusammen, «wenn auch keineswegs aus christlicher Nächstenliebe, sondern weil Eanred ein kundiger Heiler ist, der dem Abt zu einem ruhigen Nachtschlafverhelfen kann.»
«Ihr habt es erfaßt, Schwester», bestätigte Sebbi in gönnerhaftem Ton.
«Und wann hat sich das alles abgespielt?»
«Vor etwa sieben Jahren, wie ich schon sagte.»
«Und Eanred war Puttoc so dankbar für seine Befreiung, daß er zum christlichen Glauben übergetreten und Euch beiden ins Kloster Stanggrund gefolgt ist?»
Sebbi grinste über Fidelmas spöttischen Unterton. «Das trifft es nicht ganz, Schwester. Wie Ihr wißt, ist Eanred ein einfacher Mann und hat seit seiner Kindheit als Sklave gelebt. Puttoc seinerseits hat sich nicht viel Mühe gegeben, Eanred die Vorzüge der Freiheit zu erläutern. Er ließ Eanred in dem Glauben, der Preis für seine Errettung vom Galgen bestehe darin, daß er von nun an Puttoc dienen müsse. Und was Eanreds Bekehrung zum Christentum betrifft, bin ich mir nicht sicher, wieviel der arme Mann davon wirklich verstanden hat. Mag sein, daß Christus für ihn nichts anderes ist als eine weitere Gottheit, wie Wotan, Freya oder Thor.»
Fidelma bemühte sich, ihre Verblüffung darüber, wie offen Sebbi seinen Abt zu tadeln wagte, hinter einer undurchdringlichen Miene zu verstek-ken.
«Das klingt, als wärt Ihr kein Freund des Abtes?» bemerkte sie.
Sebbi legte den Kopf in den Nacken und brach in brüllendes Gelächter aus. «Könnt Ihr mir auch nur einen einzigen Freund des Abtes nennen?» fragte er. «Es gibt niemanden, der Puttoc nahesteht. Außer gewissen Frauen natürlich ...»