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Fidelma sah dem jungen Mann schweigend in die Augen, dann fragte sie mit betont ruhiger Stimme: «Hat Bruder Ronan Euch das höchstpersönlich mit diesen Worten erklärt?»

Osimo errötete. «Natürlich nicht.» Seine Stimme zitterte vor Empörung.

In Fidelmas Ohren klang seine Antwort wenig überzeugend. Sie beschloß, noch einmal nachzuhaken. «Ihr habt Bruder Ronan also seit seiner Flucht nicht mehr gesehen? Und doch sprecht Ihr in seinem Sinne.»

«Ich habe in den letzten neun Monaten eng mit ihm zusammengearbeitet, und wir sind . Freunde geworden. Gute Freunde.»

Osimo sah zur Seite und reckte trotzig das Kinn.

Fidelma beugte sich vor. «Euch ist klar, daß Ihr gesetzlich verpflichtet seid, unverzüglich die custo-des zu benachrichtigen, falls Ihr Ronan Ragallach begegnet?»

«Ja, das ist mir klar», erwiderte Osimo mit ruhiger Stimme.

Fidelma lehnte sich wieder zurück und betrachtete den jungen Mann nachdenklich. «Dann ist es ja gut, Bruder Osimo. Glaubt mir, ich habe fest vor, den Mord an Wighard von Canterbury auf den Grund zu gehen. Wenn Bruder Ronan unschuldig ist, werde ich es beweisen. Sollte sich dagegen seine Schuld herausstellen, wird es für ihn kein Entrinnen geben.»

Ihr bestimmter, ehrlicher Ton ließ Osimo aufschauen.

«Ich verstehe», flüsterte er.

«Laßt uns noch einmal auf den Mord zu sprechen kommen», mischte sich Eadulf ein. «Wann habt Ihr Bruder Ronan das letzte Mal gesehen?»

«Am Tag vor der Mordnacht war Bruder Ronan bei uns im munera peregrinitatis, bis es zum Abendangelus läutete.»

«Habt Ihr Wighard oder einen der anderen Pilger aus Canterbury jemals zu sehen bekommen?»

Osimo schüttelte den Kopf.

Fidelma wandte sich an Eadulf. «Ich habe keine weiteren Fragen, es sei denn .?»

Eadulf verneinte.

«Dann, Bruder Osimo ... Ach, eine Sache hätte ich fast vergessen.» Sie griff in ihr marsupium, holte das Papyrusstück heraus und reichte es ihm. «Könnt Ihr mir sagen, was das für eine Sprache ist?»

Bruder Osimos Augen weiteten sich. Obwohl er sich rasch wieder faßte, war sein erschrockener Blick Fidelma nicht entgangen.

«Diese Schriftzeichen entstammen der Sprache der Araber», erklärt er. «Aramäisch wird sie allgemein genannt.»

«Und was haben sie zu bedeuten?»

«Schwer zu sagen. Es handelt sich um einen kleinen Ausriß aus irgendeinem unbekannten Text ... Vielleicht sogar aus einem Brief ... Nur einige wenige Worte sind zu entziffern.»

«Und welche Worte sind das?» fragte Fidelma.

«Die Schrift der Araber wird von rechts nach links gelesen. Ich erkenne die Worte für <Bibliothek> und <heilige Krankheit>, die Endung <ophilus> als Teil eines griechischen Namens und die Worte für <Preis> und <Handel>. Das ist auch schon alles. Ich glaube nicht, daß das irgendeinen Sinn ergibt.»

Nach dem bescheidenen Abendessen, das Fidelma trotz des Nachmittagsschlafs sehr müde machte, schickten sie Furius Licinius aus, um Äbtissin Wul-frun oder Schwester Eafa zu holen. Während er fort war, saßen sich Fidelma und Eadulf eine Weile lang schweigend gegenüber. Fidelma ging in Gedanken noch einmal Bruder Osimos Aussage durch. Eigentlich war sie sich sicher, daß hinter Osimos Beziehung zu Ronan Ragallach mehr steckte als eine gute Zusammenarbeit im munera peregrinitatis - jedenfalls mehr, als er im Gespräch mit ihnen zugegeben hatte. Jedenfalls schien er Ronan Ragallach auch persönlich sehr gut zu kennen. Sie hätte schwören können, daß Ronan nach seiner Flucht bei Osimo Lando Hilfe gesucht hatte. Aber es war nur ein Gefühl, aus dem sie keine Schlüsse ziehen durfte.

Sie hörte Eadulf mit den Fingern auf den Tisch trommeln und sah ihn mißbilligend an.

«Woran denkt Ihr, Eadulf?» fragte sie, als das Trommeln unbeirrt weiterging.

Blinzelnd hielt Eadulf inne. Offenbar merkte er erst jetzt, daß er völlig in Gedanken versunken war.

«Ich habe an Osimo gedacht.»

Fidelma zog erstaunt die Augenbrauen hoch. «Genau wie ich. Und woran genau?»

«An die arabischen Wörter, die er uns übersetzt hat.»

Fidelma war enttäuscht.

«Ach, so», sagte sie achselzuckend. Insgeheim hatte sie wohl gehofft, Eadulf habe sich in Gedanken ebenfalls mit der Beziehung zwischen Osimo und Ronan befaßt. «Aber die haben ja wohl kaum irgendeine Bedeutung.»

Eadulf schüttelte den Kopf. «Vielleicht nicht. Vielleicht aber doch. Sie haben mich an etwas erinnert. Wie Ihr wißt, Fidelma, habe ich in Irland einige Jahre das Kollegium der Medizin in Tuaim Brecain besucht.»

«Was hat das mit den arabischen Wörtern zu tun?»

«Möglicherweise nicht das geringste. Bis auf die Tatsache, daß ich damals einiges über die Medizin erfahren habe.»

«Ich habe keine Ahnung, worauf Ihr hinauswollt, Eadulf.»

«Für den Fall, daß sie in Zukunft irgendwann einmal einen Sinn ergeben, habe ich mir die Wörter aufgeschrieben.»

«Und?»

«Zum Beispiel war das Wort <Bibliothek> darunter. Der Sachverhalt, um den es geht, ist vielleicht irgendwelchen Büchern entnommen. <Heilige Krankheit> waren zwei Wörter, die direkt nebeneinander standen. Die heilige Krankheit heißt ein Traktat von Hippokrates, in dem er den Unterschied zwischen sensorischen und motorischen Nerven beschreibt.»

«Ich fürchte, ich kann Euch nicht folgen, Ea-dulf.»

Eadulf lächelte nachsichtig. «Herophilus von Chalcedon, einer der großen Gründer der medizinischen Schule von Alexandria, hat einen Kommentar zu Hippokrates’ Werken verfaßt. Vielleicht gehörte die Endung <ophilus> zu seinem Namen. Es könnte sich also um irgendeine Botschaft aus Herophilus’ Kommentar zu dem Traktat Die heilige Krankheit handeln, der in der Bibliothek zu finden ist.»

Fidelma lehnte sich belustigt zurück.

«Eine wenig stichhaltige, aber dennoch überle-genswerte Idee, Eadulf. Möglicherweise habt Ihr recht. Aber im Augenblick hilft uns das nicht weiter.»

«Vielleicht kann es uns in Zukunft noch einmal nützlich sein», erwiderte Eadulf, offenbar zufrieden mit seiner scharfsinnigen Schlußfolgerung.

In dem Moment kam Furius Licinius zur Tür herein. Doch noch ehe er irgend etwas sagen konnte, wurde er zur Seite geschoben, und Äbtissin Wul-frun rauschte in das officium. Sie war auffallend groß, selbst größer als Fidelma, und hatte ein schmales, blasses Gesicht mit scharfen Zügen. Ihre Hakennase verlieh ihr einen Ausdruck der Überheblichkeit, die dünnen Lippen hatte sie verächtlich zusammengekniffen. Ihre hellen Augen funkelten vor Wut.

«Also?» fauchte sie ohne jede Einleitung. «Was soll der Unsinn?»

Fidelma öffnete den Mund; Eadulf, der das gefährliche Glitzern in ihren Augen sah, ergriff jedoch an ihrer Stelle rasch das Wort und erhob sich von seinem Platz.

«Das ist kein Unsinn, Mylady», sagte er in dem Versuch, Fidelma durch die Wahl der förmlichen Anrede daran zu erinnern, daß ihr die Schwester der Königin von Kent gegenüberstand. «Hat der tesserarius der custodes Euch nicht von dem Auftrag in Kenntnis gesetzt, den wir von Bischof Gelasius bekommen haben?»

Äbtissin Wulfrun blähte wütend die Nasenflügel. «Doch, aber ich wüßte nicht, was das Ganze mich angeht.»

«Es beschäftigt Euch nicht, daß der Mann, der in einer Woche zu Eurem Erzbischof geweiht werden sollte, ermordet worden ist?» fragte Fidelma mit bedrohlich sanfter Stimme.

Äbtissin Wulfrun funkelte sie zornig an. «Ihr wißt genau, daß ich damit Eure Befragung meinte. Ich weiß nichts über die ganze Sache.»