Der sächsische Bruder verzog das Gesicht. «Sie hat sehr mächtige Verwandte, Fidelma. Ich an Eurer Stelle würde vorsichtiger sein.»
«Ihre Macht beschränkt sich auf die sächsischen Königreiche. Ich habe nicht die Absicht, dorthin zurückzukehren, wenn ich hier fertig bin.»
Eadulf wunderte sich, warum der Gedanke an ihre Abreise ihm einen so schmerzlichen Stich versetzte.
«Wie dem auch sei», erwiderte er. «Offenbar kann Äbtissin Wulfrun ein Licht auf die Sache werfen.»
Fidelma sah ihn nachdenklich an. «Immerhin ist deutlich geworden, daß sie nicht offen ist und es vorzieht, sich hinter ihrem Hochmut zu verstecken. War es nicht Ovid, der sagte, Angriff sei die beste Verteidigung?»
Eadulf blickte finster vor sich hin. «Aber was könnte sie uns verheimlichen wollen?»
Fidelma grinste. «Ich glaube, es liegt an uns, das zu entdecken.»
Eadulf nickte. «Aber welche Bedeutung hätte das für unsere Untersuchung?»
Fidelma beugte sich vor und legte eine Hand auf Eadulfs Arm. «Ich fürchte, Ihr dreht Euch im Kreis, Eadulf. Laßt uns das Ganze doch einmal durchdenken.» Sie lehnte sich zurück. «Warum fühlt die Äbtissin sich so bedrängt, daß sie ihr Heil im Angriff sucht? Verhält sie sich immer so, oder weiß sie etwas, das sie zu diesem Gebaren zwingt?»
Eadulf musterte sie ratlos.
«Ich glaube», fuhr Fidelma nach einer Weile fort, «daß es vermutlich an ihrer Art liegt. Ich habe von ihrem Vater, diesem König Anna, gehört. Der frühere Anhänger Wotans hat sich zum wahren Glauben bekehren lassen. Soweit ich im Bilde bin, hatte Anna mehrere Töchter, die er in seiner Begeisterung allesamt zu Dienerinnen Christi machte. Wir wissen, was geschehen kann, wenn Väter ihren Töchtern einen Lebensweg aufzwingen, den sie freiwillig nie eingeschlagen hätten.»
«Aber Töchter haben kaum eine andere Wahl, als ihren Vätern zu gehorchen», erwiderte Eadulf. «Schreibt der heilige Paulus nicht: <Kinder, seid gehorsam euren Eltern in allen Dingen, auf daß ihr dem Herrn gefällig seid>?»
Fidelma lächelte nachsichtig. «Und schreibt Paulus nicht weiter: <Väter, erbittert eure Kinder nicht, auf daß sie nicht scheu werden>? Aber ich vergesse manchmal, daß wir aus zwei sehr unterschiedlichen Welten stammen. Bei den Sachsen scheint es Sitte zu sein, daß Väter ihre Töchter verkaufen wie Vieh.»
«Aber das Gesetz der Sachsen steht in größerer Übereinstimmung mit Paulus’ Lehre», sagte Ea-dulf, der aus Erfahrung wußte, welch gleichberechtigte Stellung die Frauen in Irland genossen. «Paulus schreibt: <Frauen, seid euren Männern Untertan, wie es gottgefällig ist. Denn der Mann ist des Weibes Haupt, gleichwie auch Christus das Haupt ist der Gemeinde ...> Dieser Lehre folgen wir.»
«Ich ziehe die Sitte meines Heimatlandes vor, wo den Frauen zumindest eine gewisse Wahl zugebilligt wird», entgegnete Fidelma gereizt. «Wir brauchen Paulus nicht in all seinen Ansichten zu gehorchen, denn er war ein Mann seiner Kultur, die nicht meine Kultur ist. Außerdem stimmten nicht einmal alle Gläubigen in Paulus’ Umgebung mit seinen Lehren überein. Paulus setzte sich für den Zölibat aller Geistlichen ein und betrachtete alles Geschlechtliche als hinderlich für die höheren Ziele der Seele. Wer könnte das allen Ernstes glauben?»
Eadulf räusperte sich verlegen. «Aber es muß doch so sein. Schließlich war es die Ursache für Adams und Evas Sündenfall.»
«Wie kann die Geschlechtlichkeit Sünde sein, wenn die Fortpflanzung für das Überleben der Menschheit notwendig ist? Sollen wir glauben, daß Gott uns zum Untergang verdammte, indem er die Fortpflanzung zur Sünde machte? Und wenn es eine Sünde ist, warum hat er uns dann überhaupt die Mittel zur Fortpflanzung gegeben?»
«Paulus schrieb an die Korinther, die Ehe und die Zeugung von Nachkommen seien keine Sünde», hielt Eadulf dagegen.
«Nicht ohne jedoch hinzuzufugen, daß sie weniger heilbringend seien als der Zölibat. Ich glaube, daß Roms Forderung an seine Geistlichen, der geschlechtlichen Liebe zu entsagen, große Gefahren in sich birgt.»
«Es ist nicht mehr als ein Vorschlag», sagte Eadulf. «Seit dem Konzil von Nicäa bis zum heutigen Tag hat die römische Kirche ihren Geistlichen, die im Rang unter dem eines Abts oder Bischofs stehen, nur nahegelegt, ihren Ehefrauen nicht beizuwohnen oder möglichst gar nicht zu heiraten. Sie hat es ihnen nicht verboten.»
«Über kurz oder lang wird sie es ihnen verbieten», antwortete Fidelma. «Johannes Chrysosto-mus hat sich in Antiochia gegen jegliches Zusammenleben von männlichen und weiblichen Ordensleuten ausgesprochen.»
«Ihr glaubt also, daß der Zölibat ein Fehler ist?»
Fidelma verzog das Gesicht. «Sollen all jene, die im Zölibat leben wollen, dies auch tun. Aber alle dazu zu zwingen ist ganz gewiß ein Fehler. Wäre es nicht Blasphemie, zu behaupten, man könne Gott nur dienen, indem man eines der größten Wunder seiner Schöpfung ablehnt? Heißt es nicht in der Schöpfungsgeschichte: <Gott schuf sie als Mann und Weib und segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch .> Sollen wir das verleugnen?»
Ein zaghaftes Klopfen an der Tür ließ sie innehalten. Auf ihren Zuruf trat Schwester Eafa ein und blickte mit ängstlichem Blick von einem zum anderen.
«Da bin ich, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, warum Ihr mich gerufen habt», sagte sie und rang die schwieligen, sehnigen Hände.
Fidelma lächelte ihr aufmunternd zu und deutete auf den leeren Stuhl. Eadulf bemerkte, daß Fidelmas Wut über Äbtissin Wulfrun verflogen war. Offenbar hatte der Streit über den Zölibat sie von ihrem Zorn abgelenkt.
«Eine reine Formsache, Eafa», versuchte sie, das verängstigte Mädchen zu beruhigen. «Wir wollten von Euch wissen, wann Ihr Wighard das letzte Mal lebend gesehen habt?»
Das Mädchen blinzelte unsicher. «Das verstehe ich nicht, Schwester.»
«Hat der tesserarius Euch nicht erklärt, daß wir den Auftrag haben, Wighards Tod näher zu untersuchen?»
«Schon, aber .»
«Sicherlich habt Ihr Wighard gestern beim Abendessen im Refektorium gesehen, an dem Ihr gemeinsam mit Äbtissin Wulfrun teilgenommen habt?»
Das Mädchen nickte.
«Und danach?» ermutigte sie Fidelma.
«Nein, danach nicht mehr. Ich ging, als Äbtissin Wulfrun gerade mit ihm an der Tür zum Refektorium stand. Sie haben ... über irgend etwas gestritten. Ich zog mich in meine Kammer zurück. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.»
Neugierig beugte sich Eadulf vor. «Äbtissin Wulfrun hat mit Wighard gestritten?»
Eafa nickte.
«Worum ging es bei diesem Streit?»
Eafa zuckte die Achseln. «Ich bin mir nicht sicher. Ich habe nicht zugehört.»
Fidelma sah das Mädchen freundlich an. «Ihr seid also in Euer Zimmer neben dem von Äbtissin Wulfrun zurückgekehrt?»
«Ja.»
«Und habt Ihr Euer Zimmer an dem Abend noch einmal verlassen?»
«Nein, nein!»
Fidelma zog die Augenbrauen hoch. «Wirklich nicht?»
Das Mädchen runzelte die Stirn, zögerte und verbesserte sich: «Einige Zeit später hat mich Äbtissin Wulfrun in ihr Zimmer gerufen.»
«Zu welchem Zweck?»
Die Frage schien Eafa zu überraschen. «Um ihr bei der Vorbereitung auf die Nachtruhe zu helfen.»
«Kommt das öfter vor?»
Das Mädchen lächelte fragend. «Was meint Ihr damit, Schwester.»
«Ihr seid doch Äbtissin Wulfruns Reisegefährtin.»
Eafa nickte.
«Warum erledigt Ihr niedrige Dienste für sie, um die sie sich auch gut alleine kümmern könnte.»
«Weil . » Eafa suchte nach den passenden Worten. «Weil ... sie eine hochgestellte Dame ist.»
«Das war sie vielleicht einmal. Inzwischen ist sie nicht mehr als wir alle: ein Mitglied der Schwesternschaft. Auch eine Äbtissin kann von einer Nonne ihres Hauses nicht erwarten, wie eine Herrin bedient zu werden.»