Doch der Mörder war anscheinend so auf diesen Gegenstand erpicht gewesen, daß er ihn mit einem Messer losgeschnitten hatte. Als Fidelma kopfschüttelnd die Lampe hob, sah sie etwas Glitzerndes auf dem Boden liegen. Entschlossen ging sie darauf zu und hob es auf, und ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen.
Es war ein nicht sonderlich kunstfertig geschmiedeter Silberkelch, durch die unsanfte Behandlung leicht verbeult und zerkratzt. Fidelma wußte sofort, daß sie einen der fehlenden Kelche aus Wighards Schatz in Händen hielt. Aber was hatte das zu bedeuten? Tausende von Fragen fielen ihr ein - Fragen, aber keine Antworten.
Wenn Ronan Ragallach sich im Besitz des vermißten Schatzes befand, hatte er ihn womöglich doch gestohlen. Hatte sie sich geirrt? War er trotz allem der wahre Mörder? Allerdings stimmte da etwas nicht. Warum hätte er ihr eine Nachricht zukommen lassen, dieses Treffen vereinbaren und gleichzeitig schwören sollen, daß er an Wighards Tod unschuldig war?
Verwirrt wandte sich Fidelma wieder der Leiche zu und durchsuchte Bruder Ronans Kleider. In seiner crumena befanden sich einige Münzen und ein Stück Papyrus. Es war mit den gleichen seltsamen Hieroglyphen bedeckt wie der Fetzen, den sie auf dem Boden seines Zimmers in Biedas Herberge gefunden hatte.
Sie schnappte nach Luft, als sie erkannte, daß es sich um das abgerissene Teil eines größeren Papyrus handelte, der dem, den sie bereits gefunden hatte, in Form und Größe ähnelte. Vielleicht war dies der Rest des ursprünglichen Textes. Rasch ließ sie den Papyrus in ihr marsupium gleiten. Den Silberkelch in der einen, die Lampe in der anderen Hand, erhob sie sich und ging zurück zum Grabmal der Aurelia Restutus.
Kaum hatte sie die vordere Grabkammer betreten, hörte sie Stimmen näherkommen. Fidelma zögerte. Die Stimmen klangen leise und eindringlich. Und sie redeten in einer merkwürdigen, fremden Sprache.
Die Vernunft sagte Fidelma, daß diese Leute nichts mit Bruder Ronans Tod zu tun haben konnten, denn die Mörder des irischen Mönchs würden sicher nicht kurz darauf sorglosen Schrittes an den Tatort zurückkehren. Und doch mahnte eine unhörbare, innere Stimme sie zur Vorsicht. Rasch faßte sie einen Entschluß. Sie suchte nach einer leeren Nische, entschied sich für eine, die dem Erdboden möglichst nahe war, kletterte hinein, löschte die Lampe, streckte sich rücklings in dem leeren Grab aus und stellte sich tot.
Die Stimmen näherten sich.
Sie konnte zwei Männer unterscheiden. Ihrem hitzigen Tonfall nach zu urteilen, stritten sie, obwohl Fidelma nichts verstand. Sie sah ein Licht über die Wände der Katakomben tanzen. Mit halb geschlossenen Augenlidern lag sie da und betete inbrünstig, daß die beiden Männer die Leichen, die rechts und links in den Nischen der Grabkammer lagen, nicht beachteten.
Zu ihrem Entsetzen blieben die beiden dunklen Gestalten in der Kammer stehen und schauten sich mit erhobenen Kerzen um.
Fidelma hörte den Namen «Aurelia Restutus» und mehrmals das Wort kafir. Sie schienen zu warten. Fidelma biß sich auf die Lippen. Waren diese Fremden etwa ebenfalls mit Bruder Ronan Ragal-lach verabredet?
Nach einer Weile ging der Ungeduldigere der beiden weiter. Fidelma hielt den Atem an, denn sie wußte, was er in der nächsten Kammer finden würde. Sie vernahm einen schrillen Schrei und etwas, das wie «Bismillah!» klang. Dann eilte der zweite Mann seinem Gefährten zur Hilfe. «Ma’uzbillah!» rief er.
Sobald es in der vorderen Grabkammer dunkel war, schlüpfte Fidelma aus ihrer Nische, nahm Lampe und Kelch und lief hinaus auf den Gang. Die aufgeregten Stimmen der beiden Männer hinter sich noch deutlich im Ohr, wagte sie es nicht, stehenzubleiben und ihre Lampe anzuzünden, sondern tastete sich in der Dunkelheit eilig voran. In Gedanken wiederholte sie Antonios Anweisungen, diesmal in umgekehrter Reihenfolge. Die Lampe in der einen, den Kelch in der anderen Hand, stieg sie die Treppe hinauf. Nur einmal stieß sie sich das Knie an einem vorstehenden Stein.
Oben angekommen, hielt sie an, um Atem zu schöpfen, dann wandte sie sich nach rechts in den langen, schmalen Gang, der zur nächsten Treppe führte. Sie zählte zweihundert Schritte, bis er sich zu einer großen, reichverzierten Grabkammer verbreiterte. Wieder blieb sie stehen und lauschte angestrengt. Niemand war ihr gefolgt.
Fidelma kniete nieder und stellte Lampe und Kelch vor sich auf den Boden. Dann holte sie die Zunderbüchse aus ihrem marsupium. Ihre Finger zitterten, und es dauerte eine Weile, ehe es ihr gelang, die Lampe anzuzünden.
Als der warme, goldene Schimmer der Flamme sich in der prächtigen Grabkammer verbreitete, stieß Fidelma einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie holte tief Luft, sammelte Kelch und Lampe ein, stand auf und pirschte sich durch den schmalen Gang bis zu der langgestreckten Treppe, die ins nächsthöhere Stockwerk führte. Sie schwor sich, sich niemals wieder in dieses dunkle Labyrinth vorzuwagen.
Inzwischen hatte sie nur noch einige hundert Meter vor sich. Obwohl sie am liebsten so schnell wie möglich zum Ausgang gelaufen wäre, zwang sie sich, betont langsam zu gehen. War es im Grunde nicht lächerlich, sich vor den beiden Fremden zu fürchten? Schließlich lag es auf der Hand, daß sie mit Bruder Ronan Ragallachs Tod nichts zu tun hatten. Weshalb hätten sie Fidelma bedrohen sollen? Sie wünschte, sie wäre mutiger gewesen, aber in der dunklen Grabkammer hatte sie plötzlich eine seltsame Angst ergriffen. Fidelma fragte sich, ob die beiden Fremden sich ebenfalls mit Bruder Ronan hatten treffen wollen und wer sie überhaupt waren.
Beim Gedanken an Bruder Ronan überlief sie plötzlich ein kalter Schauer. Er war auf genau die gleiche Weise getötet worden wie Wighard von Canterbury. Jemand hatte ihn mit einer Gebetsschnur erwürgt! Damit schied Ronan endgültig als Wighards Mörder aus. Aber wenn er Wighard nicht ermordet hatte, wieso hatte er dann einen Silberkelch aus Wighards gestohlenem Schatz bei sich getragen?
Ronan hatte seine Unschuld beteuert und sie um eine Unterredung gebeten, um ihr seine Geschichte zu erzählen. Was hatte er ihr sagen wollen?
Fidelma erinnerte sich an das Papyrusstück in ihrem marsupium, das ihr vielleicht eine Antwort auf diese Frage geben konnte. Sie würde Bruder Osimo Lando, den sub-praetor des Amtes für fremdländische Angelegenheiten, aufsuchen und bitten, ihr den Text zu übersetzen. Offenbar steckte mehr dahinter, als sie ahnte.
Sie kam zum Ende des Ganges und wandte sich nach rechts, um über die letzte Treppe zum Friedhof hinaufzusteigen.
Als sie um die Ecke bog, tauchte urplötzlich eine Gestalt vor ihr auf. Ihr blieb gerade noch genug Zeit für die Erkenntnis, daß ihr die Gestalt bekannt vorkam. Dann spürte sie einen starken Schmerz an der Schläfe, und es wurde schwarz um sie.
Wie aus weiter Ferne hörte Fidelma, wie jemand ihren Namen rief. Sie blinzelte mühsam. Ihr war übel und schwindelig. Als sie aufstöhnte, hielt ihr jemand ein Gefäß mit kaltem Wasser an die Lippen. Sie nahm einen Schluck, hustete und spuckte. Dann versuchte sie, die Augen aufzuschlagen. Das Licht blendete fürchterlich. Offenbar lag sie auf dem Rücken im Freien, über sich das blaue Himmelszelt und eine strahlend gelbe Sonne, die ihr gnadenlos ins Gesicht brannte. Wieder stöhnte sie und schloß die Augen.
«Schwester Fidelma, hört Ihr mich?»
Fidelma kannte diese Stimme und überlegte angestrengt, wem sie gehören könnte.
Kalte Wassertropfen spritzten in ihr Gesicht.
Laut ächzend wünschte sie, wer auch immer sie zu wecken versuchte, würde fortgehen und sie in Ruhe lassen.
«Schwester Fidelma!»
Die Stimme wurde immer drängender.