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Dann wandte sie sich wieder dem über die Verzögerung sichtlich verärgerten Cornelius zu und stieg in die lecticula. Die beiden Männer hievten die Sänfte ächzend auf ihre Schultern und trugen sie zum Friedhofstor. Cornelius begleitete sie eiligen Schrittes.

Es war ein seltsames Gefühl, durch die Straßen getragen zu werden, aber Fidelma war dankbar für Cornelius’ Hilfe. Ihr Kopf schmerzte fürchterlich, und sie fühlte sich noch immer sehr schwach. Da sie die Augen geschlossen hatte, bemerkte sie die neugierigen Blicke der Fußgänger nicht; zwar gehörten die lecticulae zum römischen Straßenbild, doch eine Geistliche in einer Sänfte gab es nur selten zu sehen.

Fidelma lehnte sich zurück und dachte noch einmal über die Ereignisse der letzten Stunden nach.

Erst als sie längst durch das Metronia-Tor in die Stadt zurückgekehrt und am Fuße des Celius-Hügels angekommen waren, wurde ihr klar, was sie in ihrer Benommenheit völlig übersehen hatte: Bisher hatte sie fest geglaubt, die beiden Fremden seien ihr gefolgt, hätten sie niedergeschlagen und ihr den Kelch und den Papyrus abgenommen. Aber sie hatte keine Verfolger gehört, und es sprach alles dafür, daß die beiden in der Katakombe der Aurelia Restutus zurückgeblieben waren. Ja, jetzt stand es ihr wieder klar vor Augen: Erst als sie am Fuß der Treppe um die Ecke bog, war plötzlich eine Gestalt vor ihr aufgetaucht - eine vertraute Gestalt, die offenbar dort auf sie gewartet hatte. Diese Gestalt hatte sie niedergeschlagen. Jemand, den sie kannte. Wer konnte es bloß gewesen sein?

XII

FIDELMA SAß IN DEM OFFICIUM IM LA-

teranpalast, das man ihr und Bruder Eadulf zugewiesen hatte, und rieb sich den schmerzenden Kopf. Schwindel und Übelkeit hatten nachgelassen, aber das Kopfweh war geblieben. Bei ihrer Ankunft im Palast hatte Eadulf auf seine Kenntnisse der Medizin verwiesen und darauf bestanden, sie weiterzubehandeln. Cornelius hatte keine Bedenken gehabt, seine Patientin in die Obhut des sächsischen Mönchs zu geben. Ja, er schien sogar erleichtert, die Verantwortung los zu sein und seinen eigenen Geschäften nachgehen zu können. Seit seinem Aufenthalt in Tuaim Brecain trug Bruder Eadulf stets eine pera oder les bei sich, wie die irischen Ärzte ihre Arzneitaschen nannten, in denen sie die verschiedensten Heilkräuter aufbewahrten. Er verband Fidelmas Wunde und bereitete einen Aufguß aus getrockneten roten Kleeblüten zu, der, wie er ihr versicherte, den Kopfschmerz rasch lindern würde.

Fidelma hatte vollkommenes Vertrauen in Ea-dulf und schlürfte den übelschmeckenden Trunk ohne Widerspruch. In Hildas Kloster in Witebia hatte er ihr schon zweimal auf ähnliche Weise geholfen und sie nach einem gefährlichen Sturz von einem starken Kopfschmerz befreit.

Während er sie verarztete, berichtete sie ihm und Furius Licinius von ihren Abenteuern. Der junge tesserarius rief sofort eine decuria der custodes zusammen und brach zum christlichen Friedhof jenseits des Metronia-Tors auf. Fidelma mußte unterdessen Bruder Eadulfs Vorwürfe über sich ergehen lassen. Obwohl sie sich alle Mühe gab, ihre Erlebnisse zu ordnen, mußte sie sich nach einer Weile eingestehen, daß ihr bisheriges Wissen dazu nicht ausreichte. Es ergab einfach keinen Sinn.

«Wir müssen nach Bruder Osimo Lando schik-ken», unterbrach sie Eadulf plötzlich mitten im Satz. Er hatte sie sanft, aber unmißverständlich dafür getadelt, allein in die Katakomben gegangen zu sein, ohne ihm oder jemand anderem vorher Bescheid zu geben. Er blinzelte. «Osimo Lando?» fragte er erstaunt.

«Er hat zugegeben, Ronan sehr gut gekannt zu haben, und ich habe das Gefühl, daß er mehr weiß, als er uns bisher sagen wollte. Vielleicht erweist er sich jetzt, da Ronan tot ist, als mitteilsamer.»

Die Tür öffnete sich, und superista Marinus betrat das Zimmer. Er wandte sich direkt an Fidelma. «Ist es wahr? Stimmt es, was ich gehört habe ... Bruder Ronan Ragallach ist tot?»

Fidelma nickte zur Bestätigung.

Das Gesicht des superista verzog sich zu einem breiten Lächeln. Er gab sich keine Mühe, seine Genugtuung zu verbergen. «Dann ist der Fall ja endlich abgeschlossen.»

«Ich fürchte, da kann ich Euch nicht ganz folgen», sagte Fidelma kühl.

Marinus breitete die Hände aus, als wollte er durch diese Geste unterstreichen, wie einleuchtend seine Schlußfolgerung war. «Der Täter ist gefunden und nicht mehr am Leben. Damit besteht kein Grund mehr, der Sache noch weiter nachzugehen.» Fidelma schüttelte bedächtig den Kopf. «Ich kann nur annehmen, daß Ihr nicht alle Tatsachen kennt, Marinus. Bruder Ronan Ragallach ist auf dem Weg zu einem Treffen mit mir von einem Unbekannten erdrosselt worden. Er hatte mir einen Brief geschickt, in dem er seine Unschuld beteuerte und um die Möglichkeit bat, seine Sicht der Dinge darzulegen. Er ist auf genau die gleiche Weise ermordet worden wie Wighard von Canterbury. Wer auch immer Wighard getötet hat, hat auch Ronan Ragallachs Leben auf dem Gewissen. Wie Ihr seht, ist der Fall in Wirklichkeit alles andere als gelöst.»

Der superista blinzelte heftig. «Mir hat man gesagt, daß er tot sei», erwiderte er in fast kläglichem Ton. «Ich habe vermutet, daß er auf der Flucht getötet wurde oder sich selbst das Leben genommen hat, weil ihm klar wurde, daß er uns auf Dauer nicht entkommen konnte.»

«Schwester Fidelma hatte recht, und wir waren im Irrtum», mischte sich Eadulf ein. Fidelma sah ihn überrascht an. Sie freute sich über den unerwarteten Respekt in seiner Stimme. Fast klang es so, als bereite es ihm Vergnügen, daß sie ihn widerlegt hatte. «Sie hat die ganze Zeit über daran ge-zweifelt, daß Ronan Ragallach Wighards Mörder war.»

Superista Marinus reckte das Kinn. «Dann müssen wir alles tun, um die Wahrheit so rasch wie möglich aufzudecken. Erst heute morgen ist der scriba aedilicius des Heiligen Vaters zu mir gekommen. Seine Heiligkeit ist über die langwierigen Ermittlungen alles andere als erfreut.»

«Wir sind ebenso an einer raschen Lösung interessiert wie er», erwiderte Fidelma, verärgert über den unterschwelligen Vorwurf. «Aber es läßt sich nun einmal nicht erzwingen.» Sie erhob sich von ihrem Platz. «Und jetzt haben wir einiges zu tun. Könntet Ihr einen Eurer Männer zu Bruder Osimo Lando schicken? Wir brauchen seinen Rat.»

Superista Marinus war es nicht gewohnt, von anderen Anweisungen zu bekommen. Er wollte Widerspruch anmelden, besann sich aber eines Besseren, nickte grimmig und ging hinaus.

Eadulf sah Fidelma grinsend an. «Am Ende werdet Ihr den Heiligen Vater noch genauso herablassend behandeln.»

«Herablassend?» Fidelma schüttelte den Kopf. «Was ich für Marinus empfinde, hat nichts mit Herablassung zu tun. Aber von uns allen wird erwartet, daß wir uns in unserer Kunst und in unserem Amt als fachkundig erweisen, und wir sollten uns Mühe geben, unsere Aufgabe mit der Sorgfalt auszuführen, die wir auch bei anderen voraussetzen. Es genügt nicht, auf das eigene Amt stolz zu sein. Man braucht auch die entsprechenden Fähigkeiten und das nötige Selbstvertrauen.»

Eadulfs Miene wurde ernst.

«Jetzt, nach Ronan Ragallachs Tod, weiß ich nicht, wie wir den Fall weiter angehen sollen.»

Fidelma neigte den Kopf zur Seite. «Ronan Ra-gallach hat in seinem Brief abgestritten, Wighard getötet zu haben, und ich glaube ihm. Trotzdem hatte er bei seiner Ermordung einen Teil von Wighards Schatz bei sich.» Sie erzählte ihm von dem Stück Sackleinen in seiner Hand und von dem Silberkelch auf dem Boden der Grabkammer. «Auch wenn ich das jetzt nicht mehr beweisen kann.»