«Habt Ihr denn irgendeinen Verdacht, wer Euch niedergeschlagen und Kelch und Papyrus gestohlen haben könnte?»
«Nein.» Fidelma seufzte tief. «Ich habe in der Dunkelheit nur ganz kurz seinen Umriß gesehen und gedacht, daß er mir bekannt vorkam.»
«Es war also auf jeden Fall ein Mann?» fragte Eadulf.
Fidelma runzelte die Stirn. Ganz unwillkürlich hatte sie die männliche Form benutzt. Doch wenn sie genauer darüber nachdachte, gab es eigentlich keinen Grund dafür.
«Nicht einmal das kann ich mit Gewißheit sagen.»
Eadulf kratzte sich nachdenklich an der Nase.
«Ich habe wirklich keine Ahnung, welchen Schritt wir als nächstes unternehmen sollten. Unser Hauptverdächtiger ist tot und wurde auf die gleiche Weise ermordet wie unser erstes Opfer .»
«Wer waren die beiden Fremden, die ich in der Grabkammer gesehen habe?» warf Fidelma ein. «Das herauszufinden wäre sicherlich der nächste Schritt. Ronan Ragallach trug die andere Hälfte des mit arabischen Schriftzeichen beschriebenen Papyrus bei sich. Außerdem habe ich mir ein paar Worte der beiden Fremden eingeprägt. Vielleicht kann Osimo Lando sie uns übersetzen. Ich glaube nämlich, daß sie aus Arabien stammten.»
«Aber warum sollte Bruder Ronan Ragallach sich mit Arabern treffen?»
«Wenn ich das wüßte, wäre ich der Lösung sehr viel näher», seufzte Fidelma.
Es klopfte an die Tür, und ein Soldat der custodes trat ein. In steifer Haltung, die Augen starr geradeaus gerichtet, blieb er salutierend vor ihnen stehen. «Ich habe Befehl, Euch zu berichten, daß Bruder Osimo Lando nicht an seiner Arbeitsstätte weilt. Er scheint sich zur Zeit überhaupt nicht im Palast aufzuhalten.»
«Könnt Ihr jemanden zu seiner Unterkunft schicken, um festzustellen, warum er nicht zur Arbeit erschienen ist?»
Der junge Mann antwortete so zackig, daß Fidelma erschrak. «Zu Befehl!» rief er laut, knallte die Hacken zusammen, drehte sich um und marschierte hinaus.
Besorgt sah Eadulf ihm nach. «Irgendwie scheint alles schiefzugehen.»
«Aber es muß doch in diesem Palast irgend jemanden geben, der die Sprache der Araber beherrscht.»
Eadulf stand auf und schritt zur Tür. «Das werde ich bald herausgefunden haben. Und Ihr ...», er drehte sich noch einmal um und sah sie eindringlich an, «. solltet Euch in der Zwischenzeit ein wenig ausruhen und von den Strapazen erholen.»
Fidelma winkte ab. Ihre Kopfschmerzen waren fast vergangen, nur die Schläfe selbst pochte noch. Allerdings gingen ihr zahllose Fragen und Gedanken im Kopf herum. Nachdem Bruder Eadulf fort war, machte sie es sich auf ihrem Stuhl bequem, faltete die Hände im Schoß und senkte den Blick, atmete tief und regelmäßig und entspannte nacheinander jeden Muskel.
Als junges Mädchen hatte sie im Noviziat die Kunst der dercad oder Meditation erlernt, durch die endlose Generationen irischer Mystiker den Zustand des sitchdin oder inneren Friedens erreicht hatten. Seither hatte sie diese Kunst in Zeiten der Belastung immer wieder angewandt und als sehr nützlich empfunden. Sie stammte noch aus der Zeit, ehe der christliche Glauben die Küsten Irlands erreicht hatte, und hatte bei den heidnischen Druiden eine große Rolle gespielt. Bis heute waren die druidischen Mystiker aus ihrem Heimatland nicht völlig verschwunden. Man fand sie noch als einsiedlerische Asketen in abgelegenen Bergfesten und Einöden. Aber sie gehörten zu einer aussterbenden Art.
Ab einem gewissen Alter war Fidelma regelmäßig ins tigh n’alluis, das Schwitzhaus, gegangen, ein fester Bestandteil der dercad-Zeremonie. In einem kleinen Steinhaus wurde ein großes Feuer entfacht, bis das Gebäude glühte wie ein Ofen. Dann gingen alle, die den Zustand des sitchain anstrebten, nackt hinein, und die Tür wurde verschlossen. Sie hockten auf Bänken und schwitzten, bis zu einer vorher verabredeten Zeit die Tür wieder geöffnet wurde, sie sich an der frischen Luft abkühlten und ins eisige Wasser sprangen, um durch diese innere und äußere Reinigung auf der Stufenleiter der dercad einen wichtigen Schritt voranzukommen. Viele asketisch lebende Gläubige folgten noch immer diesen alten Gebräuchen der Druiden, obgleich viele jüngere Geistliche sie ablehnten, und zwar meist nur deshalb, weil sie von den heidnischen Druiden stammten.
Auch der heilige Patrick, ein Brite, der bei der Einführung des Glaubens in Irland eine herausragende Rolle gespielt hatte, hatte die aus heidnischer Zeit überlieferten, teinm laegda und imbas forosnai genannten meditativen Wege zur Erleuchtung ausdrücklich mißbilligt. Fidelma war traurig darüber, daß die uralten Rituale auf dem Weg zu Selbsterkenntnis oft nur deshalb verworfen wurden, weil sie so alt waren und schon angewendet wurden, ehe der christliche Glaube nach Irland kam.
Doch die Kunst der dercad war bisher noch nicht verboten, was sich die irischen Geistlichen, wie Fidelma glaubte, auch nicht widerspruchslos gefallen lassen würden. Sie war ein hervorragendes Mittel zur Entspannung und Beruhigung des aufgewühlten Geistes.
«Schwester!»
Fidelma blinzelte. Sie hatte das Gefühl, aus einem tiefen, erholsamen Schlaf aufzuwachen.
Vor ihr stand tesserarius Furius Licinius und betrachtete sie besorgt.
«Schwester Fidelma? Geht es Euch gut?»
Fidelma lächelte ihn an. «Ja, Licinius, sehr gut sogar.»
«Ihr habt mich offenbar nicht kommen hören. Erst dachte ich, Ihr würdet schlafen, aber Ihr hattet die Augen auf.»
«Ich habe meditiert, Licinius.» Fidelma stand auf und streckte sich. Sie hatte keine große Lust, es ihm näher zu erklären. «Was bringt Ihr für Neuigkeiten?»
Furius Licinius machte ein betretenes Gesicht. «Wir haben Bruder Ronan Ragallachs Leiche aus den Katakomben geborgen und in Cornelius’ mor-tuarium gebracht. Sonst haben wir allerdings nicht viel gefunden, schon gar kein Stück Papyrus und auch keinen Silberkelch.»
Fidelma seufzte. «Genau, wie ich es mir gedacht hatte. Wer auch immer hinter der ganzen Sache steckt, ist äußerst gerissen.»
«Wir haben die Katakomben noch weiter durchsucht und sind auf einen zweiten Ausgang bei der aurelianischen Mauer gestoßen. Wahrscheinlich sind die Täter dort hinein- und auch wieder herausgekommen. Sie haben Euch nicht auf den Friedhof folgen müssen.»
Fidelma nickte bedächtig. «Und Ihr habt keine Hinweise auf den Täter entdeckt?»
«Nur daß Bruder Ronan Ragallach, wie Ihr selbst schon sagtet, mit einer Gebetsschnur erdrosselt wurde, und zwar auf genau die gleiche Weise wie Wighard von Canterbury.»
«Nun», Fidelma lächelte matt, «eine Kleinigkeit, die ich bei Ronan gefunden habe, wurde mir nicht gestohlen ...»
Aus ihrem marsupium zog sie das Stück Sackleinen hervor, das der tote Ronan Ragallach noch im Tod umklammert hatte.
Furius Licinius betrachtete er erstaunt. «Was soll das beweisen? Soweit ich sehen kann, ist das ein ganz gewöhnliches Stück Sackleinen.»
«In der Tat», stimmte Fidelma zu. «Genau wie dieses hier.»
Sie legte das andere Stück, das sie am Eingang zu Bruder Eanreds Kammer sichergestellt hatte, auf den Tisch.
«Glaubt Ihr, es stammt von dem gleichen Sack?»
«Die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich groß.»
«Aber das ist eine bloße Annahme und kein Beweis.»
«Ihr seid auf dem besten Wege zum Rechtsgelehrten, Furius Licinius», lachte Fidelma. «Ihr habt recht, es ist kein Beweis. Aber es reicht aus, um Eanred noch einmal ins Verhör zu nehmen.»
«Bruder Eanred? Diesen Einfaltspinsel?»
In dem Moment kam Bruder Eadulf zurück. Sein enttäuschtes Gesicht ließ auf den ersten Blick erkennen, daß seine Suche erfolglos geblieben war. «Es war tatsächlich niemand aufzutreiben, der die Sprache der Araber beherrscht.»