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«Ah, natürlich», seufzte Fidelma. «Ich hätte es mir denken können. Laßt uns gleich hingehen. Vielleicht finden wir dort des Rätsels Lösung.»

Furius Licinius zeigte ihnen eine Abkürzung durch den Lateranpalast. Die Räume des munera peregrinitatis befanden sich im oberen Stockwerk eines zweistöckigen Hauses. Anstatt die Marmortreppe in den Innenhof zu nehmen, brachte Licini-us sie zu einer Holzbrücke. Diese führte zu dem Gebäude, das die scala sancta barg - jene heilige Treppe, die Christus einst nach der Verurteilung durch Pilatus hinuntergeschritten war.

Zu Eadulfs Erstaunen erkundigte sich Fidelma trotz der vielen drängenden Fragen in aller Seelenruhe bei Furius Licinius nach dem Gebäude. Ihre Einstellung zur Zeit hatte ihn schon öfter verwundert, denn wie viele ihrer Landsleute sah sie nur selten einen Grund zur Eile.

«Das eigentliche sancta sanctorum befindet sich in der Mitte», erklärte Licinius, als Fidelma stehenblieb, um sich das Gebäude näher anzuschauen.

«Der Weg ist uns durch ein Tor versperrt. Ich werde Euch deshalb auf anderem Wege in die Kapelle der heiligen Helena geleiten. Von dort aus können wir das Palastgelände in unmittelbarer Nähe des Aquädukts verlassen. Das ist der schnellste Weg zu Biedas Haus.»

«Warum ist uns dieser heilige Ort versperrt?» fragte sie.

«Es befindet sich dort ein dunkler Raum mit einem Eisengitter als Fenster. Frauen werden nicht eingelassen. Und es gibt sogar einen Altar, an dem noch nicht einmal der Heilige Vater die Messe lesen darf.»

Fidelma lächelte matt. «Tatsächlich? Wozu sollte so ein Altar denn gut sein?»

Im ersten Augenblick war Furius Licinius empört, dann sah er ein, daß sie recht hatte. Ein Altar, an dem nicht einmal Seine Heiligkeit eine Messe lesen durfte, war im Grunde nutzlos. Schweigend führte er sie weiter über die Holzbrücke. Diese ging im rechten Winkel von dem Gebäude mit dem sancta sanctorum ab und brachte sie über einen weiteren Innenhof direkt in den oberen Stock einer kleinen Kapelle.

«Das ist die Kapelle der heiligen Helena, der Mutter Konstantins. Ihr haben wir es zu verdanken, daß die Pilger hier in Rom all die heiligen Reliquien bewundern können», erklärte Furius Licinius.

Die Kapelle wurde von einem gelangweilten Soldaten der custodes bewacht, der vor Licinius salutierte, die Tür entriegelte und sie einließ.

Sie standen auf der hölzernen Empore hoch über dem Mosaikfußboden des runden Gebäudes. Eindringliches Flüstern hallte in dem dunklen Gewölbe wider. Es klang so verschwörerisch, daß Fidelma den Arm des jungen Offiziers ergriff. Sie sah ihn und Eadulf an und legte einen Finger auf die Lippen. Dann schlich sie zum Rand der Empore und spähte über das Geländer hinweg ins Erdgeschoß der Kapelle hinunter.

Unmittelbar unter ihnen standen zwei Gestalten, eine junge Nonne in gebeugter Körperhaltung und die aufrechte Gestalt eines Klostermönchs. Die beiden waren in ein angeregtes, vertrauliches Gespräch vertieft. Die Frau redete am meisten, während der Mann nur zustimmend nickte. Fidelma wußte nicht, weshalb sie ihre Begleiter zur Ruhe gemahnt hatte, damit niemand sie bemerkte. Doch die flüsternden Stimmen hatten etwas Geheimnisvolles, das durch das Verhalten der beiden Geistlichen noch verstärkt wurde. Neugierig blickte Fidelma nach unten und versuchte, ein paar Worte aufzuschnappen, aber das Echo verzerrte alles, so daß sie nichts verstand.

Dann hob die Nonne plötzlich beide Hände, umarmte den Mönch und küßte ihn auf die Wange, ehe sie eilig die Kapelle verließ.

Durch die offene Tür fiel das Licht auf das Gesicht des Mönches. Es war der sanftmütige, einfältige Bruder Eanred.

Als auch er gegangen war, wandte sich Licinius an Fidelma. «Eine Liaison zwischen einer Nonne und einem Mönch wird zwar nicht gern gesehen, ist aber auch nicht verboten, Schwester», bemerkte er spöttisch.

Fidelma verkniff sich die Antwort und folgte ihm und Bruder Eadulf über eine Wendeltreppe ins Erdgeschoß. Stolz zeigte Licinius ihnen die in verschiedenen Schreinen ausgestellten Reliquien.

«Dort seht ihr eine Haarlocke der Jungfrau Maria und ein Stück von ihrem Unterrock», erklärte er. «Und das ist ein Gewand Christi, mit seinem Blut befleckt. Dieses Fläschchen hier enthält mehrere Tropfen seines Blutes, in dem anderen ist etwas von dem Wasser, das aus seinen Wunden floß.»

Fidelma musterte mißtrauisch die ausgestellten Gegenstände. «Und der alte Schwamm?» Sie deutete auf einen dunklen, löchrigen Klumpen auf einem goldenen Sockel.

«Das ist der Schwamm, den man in Essig tauchte und dem am Kreuz hängenden Jesus reichte», sagte Licinius ehrfürchtig. «Und hier ist der Tisch, an dem unser Heiland das letzte Abendmahl zu sich nahm .»

Fidelma lächelte spöttisch.

«Dann war das letzte Abendmahl tatsächlich ein größeres Wunder, als ich es mir bisher vorgestellt habe. An diesem Tisch konnten doch höchstens zwei Leute sitzen, von Jesus und den zwölf Aposteln ganz zu schweigen.»

Licinius war für ihre Zweifel unempfänglich.

«Und was sind das für Steine?» fragte Fidelma und zeigte auf den kleinen, von zwei behauenen Felsbrocken flankierten Altar.

«Der linke Stein stammt aus dem Heiligen Grab», erklärte Licinius eifrig, «und auf dem rechten hat der Hahn gekräht, nachdem Petrus unseren Herrn dreimal verleugnet hat.»

«Und all diese Dinge hat die heilige Helena gesammelt und nach Rom gebracht?» fragte Fidelma ungläubig.

Licinius nickte und deutete auf den nächsten Schrein: «Diese Tücher hat sie allerdings hier in der Stadt gefunden. Es sind die Tücher, mit denen die Engel das Gesicht des heiligen Laurentius abtupften, als er auf dem glühenden Rost zu Tode gemartert wurde. Und dies sind Moses’ und Aarons Wanderstäbe ...»

«Woher wußte Helena, daß die Reliquien echt sind?» unterbrach ihn Fidelma, verärgert darüber, daß diese mit Inbrunst verehrten Gegenstände, die Pilger aus der ganzen Welt anlockten, nur geschickte Fälschungen geschäftstüchtiger Kaufleute waren.

Licinius sah sie entgeistert an. Bisher hatte noch niemand gewagt, eine solche Frage zu stellen.

«Ich habe mir nur gerade vorgestellt», fuhr Fidelma fort, «wie Helena als Pilgerin in ein fremdes Land kam, um nach heiligen Reliquien zu suchen. Als die Kaufleute dieses Landes davon hörten, haben sie ihr die passenden Dinge angeboten - natürlich erst, nachdem sie sich vergewissert hatten, daß sie auch gut dafür zahlen wollte.»

«Aber das ist Gotteslästerung!» rief Licinius empört. «Der Herr war mit ihr, um sie vor solchen Scharlatanen zu schützen! Ihr wollt doch nicht etwa behaupten, daß Helena betrogen wurde und diese Gegenstände wertlos sind?»

«Ich bin jetzt seit über einer Woche in Rom und habe mit eigenen Augen gesehen, wie dutzendweise ähnliche Reliquien an gläubige Pilger verkauft wurden, die sich bereitwillig von ihrem sauer ersparten Geld trennten, um ein Stück von der echten Fußfessel des heiligen Petrus mit nach Hause zu nehmen! Und all diese Reliquien, versichert man uns, seien echt. Ich sage Euch, Licinius, wenn man all das Holz vom wahren Kreuz Jesu, das derzeit in Rom verhökert wird, zusammensetzen würde, entstünde daraus das wunderbarste und größte Kreuz, das die Welt je gesehen hat.»

Eadulf faßte sie am Arm und mahnte sie mit einem stummen Blick, mit ihren Äußerungen vorsichtiger zu sein.

Licinius war zutiefst entrüstet. «Die heilige Helena hat die Echtheit all dieser Reliquien höchstpersönlich bestätigt», widersprach er.

«Das bezweifle ich nicht», entgegnete Fidelma lächelnd.

«Ich fürchte, wir haben jetzt nicht genug Zeit, um diese Fragen ausführlich zu erörtern», unterbrach sie Eadulf besorgt. «Wir können ja später noch einmal zurückkehren und über Helenas Reise ins Heilige Land debattieren.»