Eadulf, der sich an den Vorfall erinnerte, nickte zur Bestätigung.
«Er sagte, Ihr wärt an den Gerichten Eures Landes als Advokatin tätig und dafür berühmt, selbst schwierige Fälle lösen zu können. Ja, Ronan erklärte uns, Ihr wärt ein Mensch, der allein der Suche nach der Wahrheit verpflichtet sei. Osimo und ich rieten ihm ab, aber er wollte unbedingt mit Euch sprechen, seinen Namen reinwaschen und Euch davon überzeugen, daß er an Wighards Tod keine Schuld trug.»
Furius Licinius lachte auf. «Und Ihr erwartet, daß wir Euch das glauben? Ihr habt bereits gestanden, daß Ihr Wighard beraubt habt. Wer ihn beraubt hat, muß ihn auch getötet haben.»
Cornelius sah Fidelma flehend an.
«Das ist nicht wahr. Wir haben mit dem Tod des Sachsen nichts zu tun. Wir haben ihn bestohlen, das gebe ich zu. Und zwar für einen Zweck, für den ich mich bis heute nicht schäme. Wenn Ihr der wahrheitsliebende Mensch seid, für den Ronan Euch gehalten hat, werdet Ihr das wissen.»
Fidelma mußte zugeben, daß Cornelius einen aufrichtigen Eindruck machte. «Deshalb wollte sich Ronan also in den Katakomben mit mir treffen.»
«Ja. Natürlich hätte er nicht offenbart, daß Osimo und ich in die Sache verstrickt waren. Ihm ging es nur darum, seinen Namen reinzuwaschen.»
«Und mußte dafür sein Leben lassen.»
Cornelius nickte. «Ich hätte ihm davon abgeraten, wußte aber nichts davon, bis Osimo es mir erzählte. Ich bin sofort zum Friedhof geeilt, um Ronan abzufangen.»
«Deshalb wart Ihr so rasch zur Stelle!»
«Ja. Ich wollte Ronan unbedingt daran hindern, Euch etwas anzuvertrauen, das den Verdacht auf Osimo und mich gelenkt und den Ankauf der Bücher gefährdet hätte. Stellt Euch mein Entsetzen vor, als ich den Friedhof betrat und den arabischen Kaufmann und seinen Gefährten aus den Katakomben fliehen sah. Sie sagten mir, sie hätten Ronan tot aufgefunden.»
«Wieso sind sie Ronan in die Katakomben gefolgt, obwohl Ihr doch offenbar ihr Verhandlungspartner wart?» fragte Fidelma.
«Am Abend vor seinem Tod hatte Ronan sich bereit erklärt, sich an meiner Stelle mit dem arabischen Kaufmann hier in Marmorata zu treffen und den ersten Tauschhandel vorzunehmen. Der Kaufmann hatte mir einen kurzen Brief mit Anweisungen geschickt, den ich Ronan gegeben habe. Nach der Unterredung sagte Ronan jedoch zu Osimo, er habe das Gefühl, die Araber seien ihm gefolgt. Vielleicht waren sie mißtrauisch geworden.
Als ich ihnen auf dem Friedhof begegnete, dachte ich natürlich, sie hätten Ronan umgebracht. Ehe ich sie weiter befragen konnte, wurde ich jedoch zur Hilfe gerufen. Es hieß, in den Katakomben habe sich jemand verletzt.
Ich nahm an, es ginge um Ronan, eilte zum Haupteingang und stieg die Treppe hinunter. Vielleicht könnt Ihr Euch meine Überraschung vorstellen, als ich ausgerechnet Euch auf mich zukommen sah. Zu meinem Entsetzen mußte ich dann noch erkennen, daß Ihr einen der gestohlenen Kelche bei Euch hattet. In diesem Moment kam etwas über mich. Ich holte aus und - vergebt mir, Schwester! - schlug Euch auf den Kopf. Den Kelch nahm ich an mich. Dann durchsuchte ich Euer marsupi-um, und das war ein Glück, denn ich fand den Brief des arabischen Kaufmanns, den ich Ronan gegeben hatte. Ich hatte ihn gerade eingesteckt, als ich jemanden die Treppe herunterlaufen hörte. Ich mußte so tun, als hätte ich Euch gerade erst ohnmächtig aufgefunden. Zum Glück zweifelte niemand meine Aussage an. Alle gingen davon aus, daß Ihr die verletzte Person wart, zu der man mich gerufen hatte.»
Fidelma sah ihn mit großen Augen an. «Ihr habt mich also niedergeschlagen?»
«Vergebt mir», wiederholte Cornelius ohne allzu große Zerknirschung.
«Ich hatte gleich das Gefühl, daß mir die Gestalt auf der Treppe irgendwie bekannt vorkam», murmelte Fidelma nachdenklich.
«Als Ihr Euer Bewußtsein wiedererlangtet, schient Ihr mich aber in keiner Weise zu verdächtigen.»
«Eines verstehe ich immer noch nicht: Ich hatte die Araber in den Katakomben hinter mir zurückgelassen. Wie konnten sie vor mir herauskommen und Euch von Ronans Tod erzählen, ehe wir uns auf der Treppe begegneten?»
Cornelius zuckte mit den Achseln. «Offenbar wißt Ihr nicht, wie viele Ein- und Ausgänge diese Katakomben haben. Nicht weit von der Grabkammer, in der Ronan getötet wurde, gibt es einen, der zum Friedhofstor führt. Hättet Ihr diesen Weg eingeschlagen, wärt Ihr innerhalb weniger Minuten im Freien gewesen. Daher auch der unbekannte Pilger, der sagte, in den Katakomben sei jemand verletzt worden.»
Licinius nickte. «Cornelius hat recht, Schwester. Auch der fremde Pilger muß einen anderen Weg benutzt und Euch auf dem Weg zurück zum Haupteingang überholt haben.»
«Und warum seid Ihr nicht gleich zu Ronan gegangen?» fragte Fidelma.
«Hätte ich die Abkürzung genommen, hätte das sofort Mißtrauen erregt. Ja, ich wäre am liebsten sofort zu ihm geeilt, aber es standen zu viele Leute herum, und ich mußte zuerst Euch in den Palast zurückbringen. Anschließend war es zu spät. Licinius wurde zu den Katakomben geschickt, um Ronans Leiche zu bergen.»
«Was habt Ihr mit dem Brief und dem Kelch gemacht?» fragte Fidelma.
«Ich habe beides in meiner Arzneitasche versteckt und Osimo aufgesucht, um ihm die traurige Nachricht zu übermitteln. Offenbar haben die Araber Ronan auf dem Gewissen. Aber warum haben sie ihn getötet? Dachten sie, er würde sie betrügen?»
«Es waren nicht die Araber», sagte Fidelma.
Cornelius’ Augen weiteten sich vor Erstaunen. «Das haben sie auch behauptet. Aber wer soll es sonst gewesen sein?»
«Das müssen wir noch herausfinden.»
«Nun, ich oder Osimo waren es jedenfalls nicht. Das schwöre ich beim lebendigen Gott!» verkündete Cornelius.
Fidelma lehnte sich zurück und sah den griechischen Chirurgus nachdenklich an. «Eine Sache verstehe ich nicht .», begann sie.
«Mehr nicht?» spöttelte Eadulf. «Ich finde, die Lage wird immer verworrener.»
Furius Licinius nickte zustimmend. Fidelma achtete nicht weiter darauf. «Ihr sagtet, Bruder Ronan habe Wighard von früher gekannt und sei nicht besonders gut auf ihn zu sprechen gewesen. Könnt Ihr das etwas genauer erklären?»
«Mein Wissen beruht allein auf Hörensagen, Schwester», antwortete Cornelius. «Ich habe die Geschichte nur so weitergegeben, wie Ronan sie Osimo und dieser wiederum mir erzählt hat.»
Er hielt einen Augenblick inne, um seine Gedanken zu ordnen, ehe er fortfohr: «Ronan Ragal-lach hat sein Heimatland vor vielen Jahren verlassen, um den Sachsen das Wort des Herrn zu bringen. Zuerst reiste er durch das Königreich der Westsachsen, dann kam er ins Königreich Kent. Eine Weile predigte er an einer Kirche in Canterbury, die dem heiligen Martin von Tours geweiht ist. Wie ich erfahren habe, soll es ein winziges Kirchlein sein.»
Eadulf nickte zustimmend. «Ich kenne die Kirche.»
«Vor etwa sieben Jahren erschien eines Nachts ein Sterbender in dieser Kirche. Er war an Geist und Körper gebrochen und litt offenbar an einer Lungenkrankheit. Er wußte, daß es mit ihm zu Ende ging und wollte seine Sünden beichten. Zufällig war in jener Nacht nur ein Geistlicher zugegen, der ihm die Beichte abnehmen konnte - ein reisender Mönch aus Irland.»
«Ronan Ragallach!» platzte tesserarius Licinius, der Cornelius’ Erzählung gebannt folgte, ungeduldig heraus.
«Genau», bestätigte Cornelius. «Bruder Ronan Ragallach. Er nahm dem Mann die Beichte ab, und es waren keine geringen Sünden, die er dabei zu hören bekam. Die schlimmste war, daß der Mann sich als Mörder hatte dingen lassen. Am meisten beunruhigte ihn dabei, daß er von einer großen Sünde wußte, die auf einem bedeutenden Mitglied der Kirche lastete. Er erzählte Ronan die Hintergründe des Verbrechens in allen Einzelheiten: Er hatte von einem Diakon der Kirche Geld erhalten, um dessen Familie zu töten, weil sie ihm bei seinem weiteren Fortkommen im Wege war. Nachdem er das Geld des Diakons angenommen und dessen Frau erschlagen hatte, sah er eine Möglichkeit, sich noch mehr zu bereichern, indem er die Kinder in ein benachbartes Königreich verschleppte und als Sklaven an einen Bauern verkaufte. Schließlich starb der Mann. Und mit seinem letzten Atemzug nannte er Ronan den Namen des Diakon, der ihn als Mörder gedungen hatte. Dieser war damals der Sekretär Deusdedits, des Erzbischofs von Canterbury ...»