«Wighard!» rief Eadulf entsetzt. «Wollt Ihr damit sagen, Wighard habe seine Frau und seine Kinder mit Hilfe eines gedungenen Mörders aus dem Weg geräumt?»
Cornelius nickte bloß und fuhr fort: «Durch das Beichtgeheimnis gebunden, segnete Bruder Ronan den toten Mann, den er von einem so abscheulichen Verbrechen nicht lossprechen konnte, und begrub ihn außerhalb der Friedhofsmauer. Sein Wissen belastete ihn, aber er fühlte sich nicht in der Lage, Wighard zur Rechenschaft zu ziehen oder irgend jemandem davon zu erzählen. Er beschloß, Canterbury zu verlassen, nach Rom zu reisen und ein neues Leben zu beginnen. Als er Wighard in Rom sah und hörte, daß er von Seiner Heiligkeit zum Erzbischof von Canterbury berufen werden sollte, war er so entsetzt, daß er Osimo seine Geschichte anvertraute. Osimo berichtete sie dann später mir.»
«War Ronans Wut auf Wighard so groß, daß er ihm womöglich nach dem Leben trachtete?» fragte Licinius.
«Und sich danach genau auf die gleiche Weise das Leben nahm?» erwiderte Fidelma zweifelnd. «Das ist ziemlich unwahrscheinlich. Wann hat Osimo Euch diese Geschichte erzählt, Cornelius?»
«An dem Tag, als wir darüber sprachen, wie wir das Geld für den arabischen Kaufmann beschaffen könnten. Ronan sagte, es sei keine Sünde, Wighard zu berauben. Ich wußte diese Bemerkung nicht zu deuten, und als wir später allein waren, vertraute Osimo mir alles an. Für ihn war es der Grund, warum Ronan meinte, Wighard habe es verdient, um seinen Schatz erleichtert zu werden.»
Eine Weile lang herrschte nachdenkliches Schweigen, dann sagte Fidelma: «Ich glaube Euch, Cornelius von Alexandria. Eure Geschichte ist viel zu unwahrscheinlich, um erfunden zu sein, und Ihr habt einiges an Schuld zugegeben.»
«Ihr seid ein kenntnisreicher Mann, Cornelius. Wißt Ihr zufällig irgend etwas über die Saturnalien?» wechselte sie unvermittelt das Thema.
«Die Saturnalien?» fragte der Alexandriner erstaunt. Auch Eadulf und Licinius blickten überrascht drein.
Fidelma nickte stumm.
«Die Saturnalien waren ein heidnisches Fest, das zu Ehren des Saturn gegen Ende Dezember gefeiert wurde», erklärte Cornelius. «Es war eine Zeit der Freude, des gegenseitigen Wohlwollens und der Geschenke. Alle Geschäfte ruhten, man kleidete sich festlich und ließ es sich Wohlergehen.»
«Und gab es während des Festes irgendwelche besonderen Bräuche?» hakte Fidelma nach.
Cornelius zuckte die Achseln. «Soweit ich weiß, begannen die Saturnalien mit einem Opfer im Tempel und einem öffentlichen Festessen für jedermann. Selbst das Glücksspiel war während des Festes erlaubt. Ach ja, und dann wurden die Standesunterschiede aufgehoben. Die Sklaven zogen die Kleider ihrer Herren an und wurden von allen Pflichten befreit, während ihre Herren sie bedienen mußten.»
Fidelmas Augen leuchteten auf, und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. «Danke, Cornelius», meinte sie und stand auf.
«Und was wird aus mir?» fragte Cornelius und erhob sich ebenfalls schwerfällig von seinem Platz.
«Das kann ich im Augenblick noch nicht sagen», räumte Fidelma ein. «Ich werde dem superista Bericht erstatten, und ich nehme an, er wird die Angelegenheit dem Magistrat der Stadt übergeben. Was die Gesetze Roms betrifft, kenne ich mich nicht so gut aus.»
«In der Zwischenzeit», erklärte Furius Licinius nicht ohne Genugtuung, «wird man Euch in einer Zelle der custodes Obdach gewähren, und es wird Euch nicht so leicht fallen, von dort zu fliehen wie Eurem Spießgesellen Ronan Ragallach. Darauf habt Ihr mein Wort.»
Cornelius zuckte trotzig die Achseln. «Zumindest habe ich der Nachwelt einige große Werke erhalten, die sonst für immer verloren gewesen wären. Das ist meine Entschädigung.»
Licinius führte ihn zur Tür.
Da hatte Fidelma noch einen Einfall. «Wartet!»
Cornelius drehte sich um.
«Haben Ronan oder Osimo noch jemandem von dem angeblichen Mord an Wighards Frau und dem Verkauf der Kinder erzählt?»
Cornelius schüttelte den Kopf. «Nein. Ronan erzählte es Osimo unter dem Siegel der Verschwiegenheit, und Osimo berichtete mir aus den bereits genannten Gründen davon.»
Dann huschte ein neuer Ausdruck über sein Gesicht. Anscheinend erinnerte er sich an etwas.
«Aber Ihr habt Euer Wissen weitergegeben?» hakte Fidelma sofort nach.
Cornelius sah verlegen zu Boden. «Ich hielt es für eine so gottlose Tat, ein so abscheuliches Verbrechen, daß ich mehrere Tage lang nicht mehr zur Ruhe kam. Ein Mann, der in Kürze von Seiner Heiligkeit zum Erzbischof geweiht werden sollte, war von einem Sterbenden in seiner letzten Beichte als Mörder seiner Frau und seiner eigenen Kinder bezichtigt worden! Ich konnte es nicht für mich behalten, auch wenn ich damit das Vertrauen meines Freundes Osimo brach. Also wandte ich mich an einen Kirchenmann von Rang und Ehren.»
Fidelma überlief es heiß und kalt. «Ihr konntet also nicht schweigen. Das ist verständlich», stimmte sie ungeduldig zu. «Wem habt Ihr Euch anvertraut?»
«Ich hielt es für ratsam, mich an jemanden aus Wighards Gefolge zu wenden, um herauszufinden, ob andere etwas davon wußten und welche Möglichkeiten es gab, die Sache weiter zu verfolgen . Außerdem brauchte ich den Rat eines Mannes, der genügend Einfluß besaß, um die Angelegenheit möglichst noch vor der Weihe des zukünftigen Bischofs Seiner Heiligkeit zu Gehör zu bringen. Deshalb beschloß ich am Tag vor Wighards Tod, einen sächsischen Prälaten einzuweihen.»
Fidelma schloß die Augen und versuchte, ihre Unrast zu bezähmen. Eadulf, dem das Gewicht dieser Aussage nur allzu bewußt war, wartete mit bleichem, angespanntem Gesicht.
«Wem habt Ihr es erzählt?» fragte Fidelma noch einmal in scharfem Ton.
«Nun, dem sächsischen Abt natürlich. Abt Put-toc.»
XVI
«PUTTOC», MURMELTE BRUDER EADULF,
als sie über das Gelände des Lateranpalastes zu Abt Puttocs Zimmer im domus hospitale eilten. «Dann war es dieser verlogene, lüsterne Hurenbock also doch.»
Fidelma strafte ihn mit einem mißbilligenden Seitenblick.
«Eure Sprache ziemt sich nicht, Eadulf», tadelte sie ihn sanft.
«Es tut mir leid. Aber wenn ich an diesen ruchlosen Priester denke, der anderen Moral predigt und sich selbst vorbehaltlos dem Laster hingibt, koche ich vor Wut. Er muß der Mörder sein! Ja, rückblickend betrachtet, erscheint mir alles ganz logisch.»
«Tatsächlich?» fragte sie.
«Natürlich erst im nachhinein», sagte Eadulf, beunruhigt über den leicht belustigten Ton in ihrer Stimme. Verspottete sie ihn jetzt, da sie die Antwort kannten, wegen seiner Begriffsstutzigkeit? Schließlich hatte er zu Beginn ihrer Ermittlungen nicht an Ronan Ragallachs Schuld gezwei-felt und sich deshalb nicht die Mühe gemacht, sich näher mit dem Fall zu befassen. «Ganz bestimmt war es Puttoc. Nachdem er von Wighards dunklem Geheimnis erfahren hatte, beschloß er, Wighard zu töten und das Amt des Erzbischofs für sich zu beanspruchen. Ehrgeiz, nackter Ehrgeiz ist der Schlüssel zu dem ganzen Geheimnis.»