Fidelma seufzte. Eadulf besaß einen scharfen Verstand, machte aber immer wieder den Fehler, stets nur einen Pfad zu verfolgen und dabei zu vergessen, daß die vielen kleineren Umwege ebenfalls Beachtung verdienten.
Fidelma stellte fest, daß sie sich in Gedanken immer wieder mit Eadulf beschäftigte. Seit ihrer ersten Begegnung in Witebia spürte sie, daß er mehr für sie war als nur ein Glaubensbruder. Sie war gerne in seiner Nähe, genoß den Gedankenaustausch und die halbernsten Streitgespräche. Mehr noch, sie war nicht unempfänglich für Eadulfs Männlichkeit.
Mit achtundzwanzig Jahren hielt Fidelma sich für zu alt, um eine Ehe einzugehen, denn schließlich war es Sitte, mit sechzehn oder zwanzig Jahren zu heiraten. Es war keine bewußte Entscheidung gewesen, auf einen Gatten zu verzichten oder sich von der Welt abzuwenden, sondern hatte sich einfach so ergeben - was jedoch nicht bedeutete, daß sie ganz ohne Erfahrung war.
Im zweiten Jahr ihres Studiums an der Schule von Morann hatte sie einen jungen Mann kennengelernt, Cian, den Häuptling der Fianna, der Leibwache des Hochkönigs. Im nachhinein war die gegenseitige Anziehung jedoch eher körperlicher Natur gewesen. Ihre von heftiger Leidenschaft geprägte Liebesgeschichte endete abrupt, als Cian mit einem anderen jungen Mädchen durchbrannte, das sich ein trautes Heim wünschte und keine allzu große geistige Herausforderung darstellte. Fidelma war mit ihren Studien beschäftigt gewesen und hatte ständig über alten Texten gebrütet. Cian dagegen war eher ein Mann der Tat, dem jegliches Verständnis für hochfliegende Gedanken fehlte.
Fidelma fielen die Worte des Propheten Arnos ein: «Können etwa zwei miteinander wandern, sie seien denn einig untereinander?» Doch trotz aller vernünftigen Vorhaltungen hatte das Ende dieser Liebe Fidelma tief verletzt. Davor war sie jung und sorglos gewesen, doch Cians Zurückweisung hatte sie ihrer Unbeschwertheit beraubt, auch wenn sie sich große Mühe gab, ihre Verbitterung zu verbergen. Sie hatte sich nie ganz von der Kränkung erholt, und konnte sie nicht vergessen - vielleicht ließ sie es auch nicht zu.
Fortan hatte Fidelma ihre ganze Tatkraft in ihre Studien gesteckt. Sie wollte etwas lernen und dieses Wissen anwenden. Gefühle für einen Mann hatte sie sich nie wieder gestattet, was jedoch nicht heißen sollte, daß sie jeder flüchtigen Liaison aus dem Weg gegangen wäre. Fidelma war ein Kind ihrer Kultur und empfand keinen Neid auf die Asketen des Glaubens, die sich alle natürlichen Freuden versagten. Die Leugnung des eigenen Körpers und seiner Bedürfnisse erschien Fidelma widersinnig, und sie glaubte nicht an den Zölibat. Keuschheit war ihrer Meinung nach eine persönliche Entscheidung, kein religiöses Dogma. Doch ihre Beziehungen zu Männern waren weder tief noch dauerhaft gewesen. Hin und wieder hatte sie sich mehr erhofft und geglaubt, daß es etwas Ernstes sei, und doch hatte es stets mit einer Enttäuschung geendet.
Fidelma ertappte sich dabei, wie sie den sächsischen Mönch nachdenklich betrachtete. Sie versuchte zu verstehen, warum sie sich in seiner Gegenwart immer so froh und geborgen fühlte - und das, obwohl sie sich so voneinander unterschieden und aus anderen Kulturen stammten. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Freundin, Äbtissin Etain von Kildare, ihr erklärt hatte, warum sie ihr Amt für eine Heirat aufgeben wollte. «Manchmal weiß man einfach, was richtig ist, Fidelma. Wie zum Beispiel, wenn ein Mann und eine Frau sich kennenlernen und sofort ahnen, daß sie einander verstehen. Vom ersten Augenblick an empfinden sie eine fast unerklärliche Vertrautheit, die keiner langjährigen Freundschaft bedarf. Es ist, als wären zwei Teile plötzlich zu einem geworden.» Fidelma runzelte die Stirn. Sie wünschte, sie könnte so sicher sein wie die arme Etain.
Plötzlich wurde ihr bewußt, daß Eadulf verstummt war und auf eine Antwort wartete.
«Puttocs Ehrgeiz? Meint Ihr tatsächlich?» fragte sie schließlich und riß sich mühsam aus ihren Gedanken. «Warum hat er seine Anschuldigungen dann nicht einfach dem Heiligen Vater vorgetragen? Wäre Wighards schreckliches Geheimnis einmal bekannt geworden, hätte ihn niemand zum Erzbischof geweiht.»
Eadulf lächelte nachsichtig. «Aber welche Beweise hätte Puttoc vorlegen können? Er hatte das Ganze nur von Osimo gehört, der es wiederum von Ronan hatte, und der galt bereits als überführter Dieb. Ohne einen glaubwürdigen Zeugen hätte er einen so ungeheuren Vorwurf niemals erhärten können.»
Fidelma mußte ihm zustimmen.
«Außerdem», fuhr Eadulf fort, «hatte Puttoc ebenfalls ein dunkles Geheimnis, von dem zumindest Bruder Sebbi wußte, nämlich seinen lasterhaften Lebenswandel. Hätte er Wighard angeklagt, wäre er sicherlich auch in Schwierigkeiten geraten.»
«Mag sein», räumte Fidelma ein. «Aber ist Put-toc tatsächlich ehrgeizig genug, um den zukünftigen Erzbischof zu erdrosseln? Und warum hätte er Ronan Ragallach ermorden sollen, der doch der einzige Zeuge der ganzen Geschichte war?»
Eadulf zuckte die Achseln. «Bruder Sebbi hat bestätigt, daß Puttoc in jeder Hinsicht skrupellos ist», erwiderte er wenig überzeugend.
Sie erreichten das domus hospitale und eilten die Stufen hinauf.
Oben auf der Treppe blieb Eadulf plötzlich stehen und legte Fidelma eine Hand auf den Arm. «Meint Ihr nicht, daß wir auf Furius Licini-us und seine custodes warten sollten, ehe wir uns mit Puttoc anlegen?»
Licinius hatte den Auftrag, Cornelius ins Wachhaus zu bringen; anschließend wollte er sie in Puttocs Zimmer treffen.
Fidelma schüttelte ungeduldig den Kopf. «Selbst wenn Puttoc der Täter sein sollte, bezweifele ich, daß er uns irgend etwas antun würde.»
Eadulf sah sie überrascht an. «Nach allem, was Cornelius uns erzählt hat, glaubt Ihr noch immer nicht an Puttocs Schuld?»
«Ganz sicher hat Puttoc Dreck am Stecken», erwiderte Fidelma. «Aber ob er tatsächlich auch an den Morden beteiligt war, gilt es noch zu beweisen.»
Sie gingen durch den Korridor und blieben vor Puttocs Zimmer stehen. Fidelma beugte sich vor und klopfte an die Tür. Im Zimmer waren leise Geräusche zu hören. Dann herrschte Stille.
«Abt Puttoc! Ich bin es, Fidelma von Kildare.»
Doch sie erhielt keine Antwort. Fidelma nickte Eadulf zu. Der sächsische Mönch verstand sofort, drehte vorsichtig den Knauf herum und riß mit einem Ruck die Tür auf.
Wie angewurzelt blieben Fidelma und Eadulf auf der Schwelle stehen.
Der sächsische Abt lag auf dem Bett, die eisblauen Augen starrten glasig und leblos zur Decke. An der Todesursache gab es keinen Zweifel, denn die Gebetsschnur um seinen sehnigen Hals war nicht zu übersehen. Die Schlinge war so fest angezogen, daß sie ihm fast ins Fleisch schnitt. Seine Zunge quoll schwarz zwischen den Lippen hervor, seine Hände griffen verkrümmt ins Leere. Abt Put-toc von Stanggrund war auf die gleiche Weise erdrosselt worden wie vor ihm Wighard von Canter-bury und Bruder Ronan Ragallach.
Fidelma und Eadulf blieb nur wenig Zeit, den Anblick des toten Abts auf sich wirken zu lassen, denn schon im nächsten Moment erkannten sie die Gestalt, die sich über die Leiche beugte. Beinahe gleichzeitig stießen sie einen Schreckensruf aus. Bruder Eanred wirbelte herum; sein Gesicht war zu einer gräßlichen Fratze verzerrt, so daß er Fidelma an ein in die Enge getriebenes Tier erinnerte.
Eine halbe Ewigkeit standen alle drei erstarrt da. In Wirklichkeit dauerte es jedoch nur den Bruchteil einer Sekunde, bis Eanred mit einem gellenden Schrei quer durchs Zimmer auf den einzigen Fluchtweg zulief, der ihm noch offenstand: das Fenster zum kleinen Innenhof. Offenbar war sein Ziel der schmale Sims unter dem Fenster.
Eadulf lief ihm nach, doch der hochgewachsene Mönch drehte sich um und streckte ihn mit einem Schlag nieder. Eadulf wurde rückwärts gegen die Wand geschleudert und sackte stöhnend in sich zusammen.