Die Bambusstäbe waren überdimensional, höher als die Mauer. Ein paar orangerot gekleidete Priester suchten unter ihnen Schutz; sie schlugen auf Zimbeln. Ein dritter hielt einen Regenschirm. Ein paar Blumenstände waren da, viele Ringelblumen, und Leichenwagen, und von irgendwoher außer Sichtweite hörte man müßigen Singsang. Die Eingangshalle glich einem Dschungelsumpf und stank nach Formaldehyd. »Big Moos Sonderkurier«, sagte Luke. »Presse«, sagte Jerry.
Die Polizei ließ sie mit einem Kopfnicken durch, niemand wollte ihre Ausweise sehen.
»Wo ist der Superintendent?« fragte Luke. Der Formaldehyd-Gestank war gräßlich. Ein junger Sergeant führte sie. Durch eine gläserne Schwingtür kamen sie in einen Raum, wo an die dreißig alte Männer und Frauen, die meisten in Pyjama-Anzügen, phlegmatisch warteten, wie auf einen verspäteten Zug, über sich die schattenlosen Neonleuchten und einen elektrischen Ventilator. Einer der alten Männer räusperte sich und spuckte auf den grün gefliesten Boden. Beim Anblick der riesigen kweilos erstarrten sie in höflichem Staunen. Das Büro des Pathologen war gelb. Gelbe Wände, gelbe Jalousien, geschlossen; eine nicht funktionierende Klimaanlage. Der gleiche grüne Fliesenboden, leicht aufzuwaschen. »Toller Geruch«, sagte Luke. »Anheimelnd«, pflichtete Jerry bei.
Jerry wünschte sich aufs Schlachtfeld. Auf dem Schlachtfeld war es leichter. Der Sergeant wies sie an, zu warten und ging weiter voraus. Sie hörten Bahren quietschen, leise Stimmen, das Zuschlagen einer Gefrierfach-Tür, das Zischeln von Gummisohlen. Ein Band von »Grey's Anatomy« lag neben dem Telefon.
Jerry blätterte darin und starrte die Bilder an. Luke hockte auf einem Stuhl. Ein Assistent mit kurzen Gummistiefeln und einem Overall brachte Tee. Weiße Tasse, grüne Ränder, und das Wappen von Hongkong nebst einer Krone.
»Könnten Sie dem Sergeant bitte sagen, er möchte sich beeilen?« sagte Luke. »Im Handumdrehen wird die ganze verdammte Stadt hier sein.«
»Warum wir?« sagte Jerry wieder.
Luke goß einen Schwall Tee auf den Fliesenboden, und während der Tee in den Gully rann, schraubte er den Verschluß seiner Whiskyflasche auf. Der Sergeant kam zurück und winkte ihnen wortlos mit seiner schlanken Hand. Sie folgten ihm wieder zurück durch den Wartesaal. Dann kam keine Tür mehr, nur ein Korridor und eine Barriere wie in einer öffentlichen Bedürfnisanstalt, und dann waren sie da. Als erstes sah Jerry die ramponierte Bahre. Nichts kann so alt und trostlos aussehen, dachte er, wie ausgediente Krankenhauseinrichtung. Die Wände waren mit grünem Schimmel überzogen, vom Plafond hingen grüne Stalagtiten, ein verbeulter Spucknapf war mit gebrauchtem Verbandzeug gefüllt. Sie putzen ihnen die Nasen aus, erinnerte er sich, ehe sie das Laken herunterziehen und sie einem zeigen. Eine Höflichkeit, damit man nicht so geschockt ist. Die Formaldehydschwaden trieben ihm die Tränen in die Augen. Ein chinesischer Pathologe saß am Fenster und notierte etwas auf einen Block. Ein paar Wärter standen herum, und noch mehr Polizisten. Etwas um Entschuldigung Bittendes schien in der Luft zu liegen. Jerry konnte es nicht definieren. Der Rocker ignorierte sie. Er stand in einer Ecke und flüsterte auf den würdig aussehenden Herrn vom Rücksitz des Streifenwagens ein, aber die Ecke war nicht weit entfernt, und Jerry hörte zweimal den Ausspruch »Makel auf unserem guten Ruf« in empörtem, nervösem Ton vorgebracht. Über die Leiche war ein weißes Tuch gebreitet, darauf ein blaues Kreuz aus zwei gleichlangen Balken. Damit sie es so und andersherum benutzen können, dachte Jerry. Es war die einzige Bahre im Raum. Das einzige Laken. Der Rest der Ausstellung befand sich im Inneren der beiden großen Kühlfächer mit den Holztüren, begehbar, so groß wie ein Fleischerladen. Luke geriet vor Ungeduld allmählich außer sich.
»Herrjeh, Rocker!« rief er durch den Raum. »Wie lang wollen Sie denn den Deckel noch hier draufhalten? Wir haben zu tun.«
Niemand kümmerte sich um ihn. Luke, der genug vom Warten hatte, schlug das Laken zurück. Jerry sah hin und sah wieder weg. Der Sezierraum war nebenan, und er konnte das Geräusch der Säge hören, wie das Knurren eines Hundes. Kein Wunder, daß alle glauben, sie müßten sich entschuldigen, dachte Jerry blöde. Eine Euro-Leiche hierherbringen1. »Herrgottnochmal«, sagte Luke. »Herrgott. Wer hat das mit ihm angestellt? Wie macht man solche Male? Das sieht nach Triade aus. Herrjeh.«
Das beschlagene Fenster ging auf den Hof. Jerry konnte den Bambus im Regen schwanken sehen und die flüssigen Schatten einer weiteren Ambulanz, die einen weiteren Kunden ablieferte, aber keiner durfte wohl jemals so ausgesehen haben wie dieser hier, dachte er. Ein Polizeifotograf war erschienen, Blitzlichter flammten auf. An der Wand hing ein Telefon. Der Rocker redete hinein. Er hatte Luke noch immer nicht angesehen und Jerry auch nicht.
»Ich möchte, daß er von hier wegkommt«, sagte der würdige Herr. »Jederzeit«, sagte der Rocker. Er ging wieder ans Telefon. »In der Ummauerten Stadt, Sir . . . Ja, Sir . . . In einer Hintergasse, Sir. Nackt. Menge Alkohol . . . Der Gerichtspathologe identifizierte ihn sofort, Sir. Ja, Sir, die Bank ist bereits hier, Sir.« Er legte auf. »Ja, Sir, Nein, Sir, jede Menge, Sir«, knurrte er. Er wählte eine Nummer.
Luke machte sich Notizen. »Herrjeh«, sagte er immer wieder schaudernd. »Herrjeh. Muß Wochen gedauert haben, bis er hinüber war. Monate.«
Sie haben ihn zweimal getötet, dachte Jerry. Einmal, damit er redete, und einmal, um ihn zum Schweigen zu bringen. Was sie ihm beim erstenmal angetan hatten, war an seinem ganzen Körper zu sehen, große und kleine Stellen, wie Flammen einen Teppich erfassen, Löcher hineinfressen und dann plötzlich von ihm ablassen. Und dann das Ding rings um seinen Hals, ein völlig anderer, rascherer Tod. Das hatten sie als Letztes gemacht, als sie ihn nicht mehr brauchten.
Luke rief dem Pathologen zu: »Drehen Sie ihn doch mal um, ja?
Würden Sie die Güte haben, ihn umzudrehen, Sir?«
Der Superintendent hatte den Hörer aufgelegt.
»Wie lautet die Story?« fragte Jerry ihn. »Wer ist er?«
»Heißt Frost«, sagte der Rocker und starrte Jerry mit seinen hangenden Augen an. »Höherer Beamter der South Asian and China. Treuhand-Abteilung.«
»Wer hat ihn getötet?« fragte Jerry.
»Tja, wer hat's getan? Das ist die Frage«, sagte Luke und schrieb eifrig.
»Die Mäuse«, sagte der Rocker.
»In Hongkong gibt es keine Triaden, keine Kommunisten und keine Kuomintang. Stimmt's Rocker?«
»Und keine Huren«, knurrte der Rocker.
Der würdige Herr ersparte dem Rocker weitere Antworten:
»Ein ganz abscheulicher Fall von Raubmord«, erklärte er über die Schulter des Polizisten hinweg. »Gemeiner, perverser Raubmord, Beweis, wie wichtig es ist, daß die Sicherheitskräfte jederzeit auf ihrem Posten sind. Er war ein treuer Diener unserer Bank.«
»Das war kein Raubmord«, sagte Luke mit einem neuerlichen Blick auf Frost. »Das war ein Kommando.«
»Er hat weiß Gott ein paar verdammt komische Freunde gehabt«, sagte der Rocker und starrte Jerry unverwandt an.
»Was soll das heißen?« sagte Jerry.
»Was weiß man bis jetzt?« sagte Luke.
»Er war bis Mitternacht in der Stadt. Feierte in Gesellschaft einiger chinesischer Herren. Ein Puff nach dem anderen. Dann verliert sich seine Spur. Bis heute nacht.«