»Wenn wir Ihre Hypothese übernehmen wollen - was ich nicht tue -, so ist Ko kein Mann der Gewalt. Er ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, und seine Maximen lauten Ansehen, Tüchtigkeit, Verdienstlichkeit und harte Arbeit. Ich dulde nicht, daß man von ihm spricht, als wäre er eine Art Raubmörder. Zugegeben, er hat seine Leute, und seine Leute sind vielleicht weniger nett als er, wenn es zum Treffen kommt. So wie wir Whitehalls Leute sind. Das macht aus Whitehall keine Schufte, möchte ich behaupten.« Um Gottes willen, Schluß damit, dachte Guillam. »Westerby ist nicht Frost«, fuhr di Salis mit dem gleichen lehrhaften Näseln fort. »Westerby ist kein ungetreuer Knecht.
Westerby hat Kos Vertrauen nicht mißbraucht, auch nicht sein Geld, er hat Kos Bruder nicht verraten. In Kos Augen repräsentiert Westerby eine große Zeitung. Und Westerby ließ durchblicken - sowohl Frost wie Tiu gegenüber, soviel ich weiß -, daß seine Zeitung über die betreffende Sache weit mehr wisse als er selber. Ko kennt die Welt. Wenn er einen Journalisten beseitigt, ist damit die Gefahr nicht gebannt. Im Gegenteil, er zieht sich die ganze Meute auf den Hals.«
»Was also bewegt ihn zur Zeit?«
»Ungewißheit. Wie Connie richtig sagte. Er kann die Gefahr nicht ermessen. Die Chinesen haben wenig Zugang zu Abstraktem und noch weniger zu abstrakten Situationen. Er wäre froh, wenn die Gefahr vorüberginge, und wenn sich nichts Konkretes ereignet, wird er annehmen, sie sei vorüber. Diese Angewohnheit ist nicht auf das Abendland beschränkt. Ich habe nur Ihre Hypothese ausgebaut.« Er stand auf. »Ich pflichte ihr nicht bei. Unter keinen Umständen. Ich distanziere mich ausdrücklich von ihr.« Er stelzte hinaus. Auf Smileys Nicken hin folgte ihm Guillam. Nur Connie blieb.
Smiley hielt die Augen geschlossen, die Stirn hatte sich über der Nasenwurzel zusammengezogen. Lange Zeit sagte Connie kein Wort. Trot lag wie tot auf ihrem Schoß, und sie blickte auf ihn herab und kraulte ihm den Bauch.
»Karla würde sich keinen Pfifferling drum scheren, wie, Liebes?« murmelte sie. »Nicht um einen toten Frost und nicht um zehn. Ja, das ist der Unterschied. Wir können nicht gut noch deutlicher werden, wie, heutzutage nicht? Wer hat doch gleich immer gesagt >Wir kämpfen um das Überleben des vernünftigen Menschen?< Steed-Asprey? Oder war es Control? Hat mir gefallen. War alles dran. Hitler. Die Neue Sache. Das ist es, was wir sind: vernünftig. Nicht wahr, Trot? Wir sind nicht bloß Engländer. Wir sind vernünftig.« Ihre Stimme wurde ein wenig leiser. »Darling, was ist mit Sam? Haben Sie darüber nachgedacht?« Es dauerte eine ganze Weile, ehe Smiley sprach, und dann war seine Stimme barsch, eine Stimme, die Connie auf Armeslänge fernhielt.
»Er soll in den Kulissen bleiben. Nichts tun, bis er grünes Licht bekommt. Er weiß das. Er muß auf das grüne Licht warten.« Er atmete tief ein und wieder aus. »Kann sein, daß er überhaupt nicht gebraucht wird. Kann durchaus sein, daß wir ohne ihn auskommen. Alles hängt davon ab, wie Ko springt.«
»George darling, lieber George.«
Nach stillschweigendem Ritual rollte sie sich zum Kamin, nahm den Schürhaken und begann unter großen Mühen, in den Kohlen zu stochern, während sie mit der anderen Hand den Hund festhielt.
Jerry stand am Küchenfenster und sah zu, wie die gelbe Dämmerung den Nebel des Hafens durchschnitt. Gestern abend war Sturm gewesen, erinnerte er sich. Mußte eine Stunde vor Lukes Anruf ausgebrochen sein. Er hatte auf seiner Matratze gewacht, während das Mädchen an seinem Bein schnarchte. Zuerst der Geruch nach Vegetation, dann der Wind, der verstohlen in den Palmen raschelte, als rieben sich trockene Hände aneinander. Dann das Zischen des Regens, als würden Tonnen geschmolzener Bleikugeln ins Meer geschüttet. Schließlich die Flächenblitze, die den Hafen in langen, langsamen Atemzügen erschütterten, während Donnersalven über den tanzenden Hausdächern krachten. Ich habe ihn getötet, dachte er. Wie man's auch dreht und wendet, ich habe ihm den entscheidenden Stoß versetzt. >Es sind nicht nur die Generale, es ist jeder Mann, der ein Gewehr trägt.< Quelle und Kontext zitieren.
Das Telefon klingelte. Soll es klingeln, dachte er. Wahrscheinlich Craw, der sich in die Hosen macht. Er nahm den Hörer ab. Luke, der sich amerikanischer denn je anhörte.
»Hey, Mann! Großes Drama! Stubbsi kam soeben über den Draht. Persönlich für Westerby. Vor dem Lesen essen. Wollen Sie's hören?«
»Nein.«
»Rundreise durch die Kriegszonen. Die kambodschanischen Fluggesellschaften und die Wirtschaft im Belagerungszustand. Unser Mann vor Ort mitten im Geschoßhagel! Sie haben Glück, Kamerad! Das Blättchen möchte, daß Sie sich eins auf den Pelz brennen lassen!«
Und daß ich Lizzie diesem Tiu überlasse, dachte er und legte auf. Und nach allem, was ich weiß, auch diesem Schwein Collins, der hinter ihr herschleicht wie ein Mädchenhändler. Jerry hatte ein paarmal mit Sam zusammengearbeitet, als dieser noch schlicht Mister Mellon in Vientiane war, ein unheimlich erfolgreicher Händler an der Spitze der dortigen europäischen Gangster. Jerry hielt ihn für eine der unappetitlichsten Gestalten, die er kannte. Er kehrte zu seinem Platz am Fenster zurück und dachte wieder an Lizzie dort droben auf ihrem schwindelnden Hausdach. Dachte an den kleinen Frost und wie gern er gelebt hatte. Dachte an den Geruch, der ihn bei der Rückkehr in die Wohnung begrüßt hatte. Der Geruch war überall. Er überlagerte den Geruch des Deodorants, das das Mädchen benutzte, den abgestandenen Zigarettenrauch und den Geruch nach Gas und Kochöl von den Mahjong-Spielern nebenan. Jerry hatte nach diesem Geruch den Weg verfolgen können, den Tiu bei seiner Suchaktion genommen hatte, wo er sich länger aufgehalten, wo er nur flüchtig verweilte auf seinem Streifzug durch Jerrys Kleidungsstücke, Jerrys Vorratskammer und Jerrys wenige Habseligkeiten. Dem Geruch einer Mischung aus Rosenwasser und Mandeln, Lieblingsduft einer früheren Ehefrau.
Die belagerte Stadt
Sobald man Hongkong verlaßt, hört es auf zu existieren. Wenn man den letzten chinesischen Polizisten in britischen Kommißstiefeln und Wickelgamaschen passiert hat und den Atem anhält, während die Maschine in sechzig Fuß Höhe über die grauen Dächer der Slums hinwegbraust, wenn die umliegenden Inseln im blauen Dunst verschwunden sind, dann weiß man, daß der Vorhang gefallen ist, die Requisiten weggeräumt sind und daß alles dort Erlebte Illusion war. Diesmal jedoch konnte Jerry sich nicht zu diesem Gefühl aufschwingen. Er trug die Erinnerung an den toten Frost und an das lebende Mädchen mit sich, und sie war auch noch bei ihm, als er Bangkok erreicht hatte. Wie immer brauchte er den ganzen Tag, bis er fand, was er suchte; wie immer war er nahe daran, aufzugeben. Nach Jerrys Ansicht ging das in Bangkok allen Leuten so: ob ein Tourist nach einem wat Ausschau hält, ein Journalist nach einer Story - oder Jerry nach Ricardos Freund und Partner Charlie Marshall - immer befindet sich das Ziel aller Wünsche am anderen Ende irgendeiner verdammten Gasse, eingeklemmt zwischen einem verstopften klongund einem Haufen Betonschutt, und es kostet einen immer fünf US-Dollar mehr, als man erwartete. Jetzt war in Bangkok zwar theoretisch Trockenzeit, aber Jerry kannte die Stadt nicht anders als im Regen, der unvermittelt in Wolkenbrüchen aus der Schmutzglocke des Himmels schoß. Später sagten die Leute immer, er habe den einzigen Regentag erwischt.
Er begann seine Suche am Flugplatz, weil er ohnehin schon hier war und von der Überlegung ausging, daß im Südosten niemand lange fliegen könne, ohne Bangkok anzusteuern. Charlie sei nicht mehr in der Gegend, hieß es. Jemand versicherte ihm, Charlie habe nach Ries Tod die Fliegerei überhaupt aufgegeben. Wieder jemand sagte, er sei im Gefängnis. Und noch jemand meinte, er sei höchstwahrscheinlich »in einer der Höhlen«. Eine hinreißende Hostesse von Air Vietnam sagte kichernd, er mache Frachtflüge nach Saigon; sie habe ihn immer nur in Saigon gesehen. »Von woher?« fragte Jerry.