Auf der Flugliste, die Jerry an der Anmeldung verkehrtherum gelesen hatte, standen acht Namen, aber außer ihm bestieg nur. noch ein Passagier das Flugzeug, ein schwarzgekleideter junger Amerikaner mit einer Aktenmappe. Alles übrige war Fracht, achtern in braunen Rupfensäcken und Binsenkörben gestapelt. Eine Luftbrücke, dachte Jerry automatisch. Man fliegt die Waren ein, man fliegt die Glücklichen aus. Die Stewardeß überreichte ihm eine alte Nummer von Jours de Trance und ein Malzbonbon. Er las Jours de France, um ein bißchen französisch zu üben, dann fiel ihm Candide ein, und er nahm sich das Buch vor. Er hatte Conrad mitgenommen, weil er in Phnom Penh immer Conrad las, und es reizte ihn, sich deutlich zu machen, das er jetzt im letzten der Conradschen Flußhäfen saß.
Sie setzten hoch zum Landeanflug an und sackten dann in einer engen, unangenehmen Spirale durch die Wolken, um ziellosem Beschuß aus dem Dschungel zu entgehen. Bodenkontrolle gab es nicht, aber das hatte Jerry auch nicht erwartet. Die Stewardeß wußte nicht, wie weit die Roten Khmer sich der Stadt bereits genähert hätten, aber die Japaner hatten gesagt auf fünfzehn Kilometer an allen Fronten, wo es keine Straßen gebe, weniger. Die Japaner hatten gesagt, der Flugplatz sei unter Feuer, aber nur Raketenbeschuß und nur sporadisch. Noch keine 105er - noch nicht, aber alles hat einmal seinen Anfang, dachte Jerry. Die Wolkenschicht war noch immer da, und Jerry hoffte zu Gott, der Höhenmesser möge in Ordnung sein. Dann sprang olivenfarbener Boden auf sie zu und Jerry sah Bombenkrater wie Eispritzer ringsum, und die gelben Furchen der Lastwagenreifen der Konvois. Als sie federleicht auf der narbigen Rollbahn aufsetzten, planschten die unvermeidlichen nackten braunen Kinder vergnügt in einem schlammgefüllten Krater herum. Die Sonne war durch die Wolken gebrochen, und Jerry hatte trotz des Gebrülls der Motoren die Illusion, in einen stillen Sommertag hinauszutreten. In Phnom Penh fand der Krieg, anders als an irgendeinem Ort, den Jerry kannte, in einer Atmosphäre des Friedens statt. Er erinnerte sich an seinen letzten Aufenthalt hier, ehe die Bombardierungen eingestellt worden waren. Eine Gruppe von Air-France-Passagieren auf dem Flug nach Tokio war neugierig auf einer Piste herumgeschlendert, ohne die geringste Ahnung, daß sie mitten in einer Schlacht gelandet waren. Niemand sagte ihnen, daß sie Deckung nehmen sollten, niemand begleitete sie. F-4- und 111-Maschinen pfiffen über den Platz, im nahen Umkreis wurde geschossen, Hubschrauber von Air America luden die Toten in Netzen ab, wie gräßliche Fänge aus einem roten Meer, und um starten zu können, mußte die Boeing 707 im Schneckentempo über das ganze Flugfeld Spießruten laufen. Fasziniert beobachtete Jerry, wie sie aus der Feuerlinie watschelte, und die ganze Zeit über wartete er auf den Plumps, der ihm sagen würde, daß sie in den Schwanz getroffen sei. Aber sie machte weiter, als seien die Unschuldigen kugelfest, und entschwand graziös in friedliche Höhen.
Ironischerweise stellte er nun, da das Ende so nah war, fest, daß die Fracht vorwiegend dem Überleben diente. Am anderen Ende des Flugplatzes landeten und starteten riesige silberne amerikanische Charterfrachtflugzeuge, 707 und große viermotorige Turboprop C130 mit der Aufschrift Transworld Bird Airways oder auch ohne jede Aufschrift, in unbeholfenem, gefährlichem Hinundher, brachten den Reis aus Thailand und Saigon und das Öl und die Munition aus Thailand. Während er zum Flughafengebäude hastete, sah Jerry zwei Landungen, und jedesmal hielt er den Atem an und wartete auf das letzte Aufbrüllen der Jets, wenn sie nach langem Manövrieren innerhalb der Verschalung aus erdegefüllten Munitionskisten am weichen Ende der Landebahn zitternd zum Stehen kamen. Noch ehe sie stillstanden, waren bereits Lastträger in Tarnjacken und Helmen wie unbewaffnete Truppen aufgetaucht, um die kostbaren Säcke aus den Laderäumen zu zerren.
Doch nicht einmal diese bösen Omina konnten seine Freude, wieder hierzusein, trüben.
»Vous resiez combien de temps, monsieur?« fragte ihn der Einwanderungsbeamte.
» Toujours, altes Haus«, sagte Jerry. »So lange Sie mich behalten wollen. Länger.« Er dachte daran, sich gleich hier nach Charlie Marshall zu erkundigen, aber der Flugplatz wimmelte von Polizisten und Spitzeln jeder Art, und solange er nicht wußte, womit er es eigentlich zu tun hatte, hielt er es für klüger, sein Interesse nicht kundzutun. Er sah ein buntes Aufgebot alter Maschinen mit neuen Abzeichen, aber keine, die Indocharter gehörte, deren eingetragene Kennzeichen, wie Craw ihm bei der letzten Instruktion, kurz ehe er Hongkong verließ, gesagt hatte, Kos Rennfarben sein sollten: Grau und Blaßblau. Er nahm ein Taxi und setzte sich neben den Fahrer, dessen höfliche Angebote von Mädchen, Shows, Clubs und Jungens er freundlich dankend ablehnte. Die Leuchtspurgeschosse zogen orangefarbene Lichtbogen über den schief ergrauen Morgenhimmel. Er trat in ein Kurzwarenlädchen, um au cours flexible Geld einzutauschen. Er liebte diesen Ausdruck. Die Geldwechsler waren meist Chinesen, erinnerte er sich. Dieser war Inder. Die Chinesen rücken beizeiten ab, aber die Inder bleiben, um das Gerippe vollends abzunagen. Rechts und links der Straße lag das Elendsviertel. Flüchtlinge kauerten überall, kochten, dösten in schweigenden Gruppen. Ein Kreis kleiner Kinder ließ eine Zigarette von Mund zu Mund gehen.