»Noms sommes un village aVec une population des millions«, sagte der Fahrer in seinem Schulfranzösisch. Ein Militärkonvoi kam ihnen entgegen, hielt sich mit aufgeblendeten Scheinwerfern in der Mitte der Straße. Der Taxichauffeur fuhr gehorsam in den Dreck. Das Schlußlicht bildete ein Krankenwagen, dessen beide Türen offenstanden. Die Leiber waren mit den Füßen nach draußen gestapelt, die Beine glichen Schweinspfoten, voll Striemen und Quetschungen. Ob tot oder lebendig war ziemlich egal. Sie kamen an einem von Raketen zerstörten Haufen Pfahlhäuser vorüber und fuhren auf einer Platz, der aussah wie in einer französischen Provinz: ein Restaurant, eine Epicerie, ein Charcutier, Werbeplakate für Byrrh und Coca-Cola. Auf dem Bordstein hockten Kinder und hüteten Weinflaschen voll gestohlenen Benzins. Auch hieran erinnerte Jerry sich: es war während der Bombardierungen gewesen. Die Granaten trafen das Benzin, und das Resultat war ein Blutbad gewesen. Es würde auch jetzt wieder passieren. Niemand lernte je etwas dazu, nichts änderte sich, am nächsten Morgen waren die Abfälle weggefegt.
»Stopp!« sagte Jerry und übergab dem Fahrer in einem momentanen Impuls den Zettel, auf dem er in der Buchhandlung in Bangkok Charlie Marshalls Adresse notiert hatte. Er hatte sich vorgestellt, daß er sich in tiefer Nacht dort anschleichen sollte, aber im hellen Sonnenlicht schien das jeden Sinn verloren zu haben.
»Y aller?« fragte der Fahrer und sah ihn erstaunt an. »Genau, altes Haus.«
»Voms connaissez cette maison?«
»Alter Kumpel.«
»A vous? Un ami á vous?«
»Presse«, sagte Jerry, was jeden Irrsinn erklärt. Der Fahrer zuckte die Achseln und lenkte den Wagen in einen langen Boulevard, an der französischen Kathedrale vorbei und auf eine ungepflasterte Straße zwischen zurückliegenden Villen, die rasch schäbiger wurden, als sie sich dem Stadtrand näherten. Jerry fragte den Fahrer zweimal, was an der Adresse so Besonderes sei, aber der Fahrer hatte seinen Charme verloren und wies die Fragen achselzuckend von sich. Als sie hielten, forderte er unverzüglich den Fahrpreis, dann raste er unter ruppigem Gängeschalten davon. Es war eine Villa wie alle anderen, von einer Mauer umzogen, die den unteren Teil des Hauses halb verbarg und durch ein schmiedeeisernes Tor unterbrochen wurde. Jerry drückte auf die Klingel und hörte nichts. Als er versuchte, das Tor aufzudrücken, rührte es sich nicht. Er hörte ein Fenster zuknallen und glaubte, als er rasch aufblickte, ein braunes Gesicht hinter dem Moskitodraht verschwinden zu sehen. Dann surrte das Tor und ließ sich öffnen, und er. stieg ein paar Stufen zu einer gefliesten Veranda und einer weiteren Tür hinauf, die aus massivem Teakholz bestand und ein winziges eingelassenes Gitter hatte, durch das man hinaus-, aber nicht hereinschauen konnte. Er wartete, dann betätigte er energisch den Türklopfer und hörte das Echo durchs ganze Haus hüpfen. Es war eine Flügeltür mit einer Fuge in der Mitte. Er preßte das Gesicht arj den Spalt und konnte einen Streifen Fliesenboden und zwei Stufen sehen, vermutlich die beiden untersten Stufen einer Treppe. Auf der letzten standen zwei glatte braune Füße, nackt, und zwei nackte Schienbeine, aber er konnte nur bis zu den Knien sehen.
»Hallo!« rief er durch den Türspalt. »Bonjour! Hallo!« Und als die Beine sich noch immer nicht bewegten: »Je suis un ami de Charlie Marshall! Madame, Monsieur, je suis un ami anglais de Charlie Marshall! Capitaine Marshall! Je veux lui parier.« Er nahm eine Fünfdollarnote und schob sie durch den Spalt, aber nichts biß an, also zog er sie wieder zurück und riß statt dessen ein Stück Papier aus seinem Notizbuch. Er richtete die Botschaft an »Captain C. Marshall« und stellte sich namentlich als »britischen Journalisten mit einem Angebot im beiderseitigen Interesse« vor, ferner gab er die Adresse seines Hotels an. Auch dieses Papier fädelte er durch den Spalt, hielt wiederum nach den braunen Beinen Ausschau, aber sie waren verschwunden, und so ging er, bis er ein cyclo fand, und fuhr damit, bis er ein Taxi erwischte: und, nein, vielen Dank, nein, vielen Dank, er wollte kein Mädchen - nur daß er, wie üblich, schon eines wollte. Das Hotel hieß früher Royal. Jetzt hieß es Phnom. Eine Fahne flatterte von der Mastspitze, aber mit der Großartigkeit war es nicht mehr weit her. Er trug sich ein, sah im Hof rings um den Swimmingpool eine Menge Fleisch in der Sonne schmoren und dachte wiederum an Lizzie. Für die Mädchen war dies die harte Schule, und wenn sie für Ricardo kleine Päckchen befördert hatte, dann war sie zehn zu eins durch diese Schule gegangen. Die hübschesten gehörten den Reichsten, und die Reichsten waren die kriminelle Elite von Phnom Penh: die Gold- und Gummischmuggler, die Polizeichefs, die korsischen Killertypen, die mit den Roten Khmer inmitten der Kämpfe säuberliche Schiebergeschäfte machten. Ein Brief war für ihn gekommen, unverschlossen. Der Empfangschef, der ihn bereits gelesen hatte, sah Jerry höflich zu, als er desgleichen tat. Eine goldgeränderte Einladungskarte mit einem Botschaftswappen lud ihn zum Dinner. Sein Gastgeber war jemand, von dem er noch nie etwas gehört hatte. Ratlos wendete er die Karte um. Auf der Rückseite war gekritzelt: »Kannte Ihren Freund George vom Guardian«, und Guardian war das Schlüsselwort. Dinner und tote Briefkästen, dachte er: was Sarratt vernichtend als die große Foreign-Office-Entbindung bezeichnete.
»Telephone?« erkundigte sich Jerry. »C'est foutu, monsieur.«
»Electricite?«
»Aussi foutue, monsieur, mais nous avons beaucoup de l'eau.«
»Monsieur Keller?« sagte Jerry und grinste. »Dans la cour, monsieur.«
Er ging in den Garten. Zwischen all dem Fleisch saß eine Gruppe 382 altgedienter Fleet-Street-Haudegen bei Whisky und harten Geschichten. Sie sahen aus wie junge Piloten in der Schlacht um England, die einen geborgten Krieg führten. Und sie beobachteten ihn mit kollektiver Verachtung ob seiner adligen Abkunft. Einer trug ein weißes Halstuch und das glatte Haar verwegen aus der Stirn geworfen.
»Herrje, ist das nicht der Herzog?« sagte er. »Wie sind Sie hierhergekommen? Auf dem Mekong gewandelt?« Aber Jerry war nicht an ihnen interessiert. Er war an Keller interessiert. Keller war ein Ständiger. Er war Presseagent, und er war Amerikaner, und Jerry kannte ihn aus anderen Kriegen. Kein ausländischer Reporter kam in die Stadt, ohne Keller seine Sache vorzutragen, und wenn Jerry sich Glaubwürdigkeit verschaffen wollte, so würde Kellers Siegel sie ihm sichern, und er legte immer mehr Wert auf Glaubwürdigkeit. Er fand Keller auf dem Parkplatz. Breite Schultern, grauer Kopf, ein Ärmel hinuntergerollt, Arm und Ärmel in die Tasche gestopft. So stand er da und sah zu, wie ein Fahrer das Innere eines Mercedes mit dem Schlauch ausspritzte. »Max. Super.«