»Famos«, sagte Keller nach einem Blick auf ihn, dann wandte er sich wieder dem Wagen zu. Neben ihm standen ein paar schlanke Khmerjungens, die mit ihren hochhackigen Stiefeln, Trompetenhosen und den Kameras über den glänzenden offenen Hemden wie Modefotografen aussahen. Nacrreiner Weile hörte der Fahrer mit dem Spritzen auf und begann, die Polster mit einem Packen Scharpie zu schrubben, der braun wurde, je mehr er rieb. Ein zweiter Amerikaner gesellte sich zu ihnen, und Jerry vermutete in ihm Kellers neuesten Gehilfen. Keller verschliß seine Gehilfen ziemlich schnell.
»Was ist passiert?« sagte Jerry, als der Fahrer wieder mit Spritzen anfing.
»Kleiner Held hat große Kugel abgekriegt«, sagte der Gehilfe. »Das ist passiert.« Er war ein blasser Südstaatler und sah belustigt aus, und Jerry konnte ihn auf den ersten Blick nicht leiden. »Stimmt das, Keller?« fragte Jerry. »Fotograf«, sagte Keller.
Kellers Telegrafenagentur hatte einen ganzen Stall voll. Wie alle großen Pressedienste: kambodschanische Jungens, wie die beiden hier. Sie bekamen zwei US-Dollar, wenn sie an die Front gingen, und zwanzig für jedes abgedruckte Foto. Jerry hatte gehört, daß Keller im Durchschnitt einen pro Woche verlor.
»Hat die Schulter durchschlagen, als er gebückt dahinrannte«, sagte der Gehilfe. »Kam durch den verlängerten Rücken wieder raus. Glatt durchgerutscht wie Gras durch eine Gans.« Er schien beeindruckt.
»Wo ist er?« sagte Jerry, nur um irgend etwas zu sagen, während der Fahrer immer noch wischte und spritzte und schrubbte. »Stirbt ein Stück weiter draußen an der Straße. Wissen Sie, das war so, vor ein paar Wochen haben diese Schweine im New Yorker Büro die ärztliche Versorgung umorganisiert. Früher haben wir die Verwundeten nach Bangkok transportiert. Jetzt nicht mehr. Mann, jetzt nicht mehr. Wissen Sie, wie's jetzt geht? Jetzt liegen sie droben an der Straße auf dem blanken Boden und müssen die Pflegerinnen bestechen, damit sie Wasser kriegen. Stimmt's, Jungens?«
Die beiden Kambodschaner lächelten höflich. »Wollen Sie was, Westerby?«
Kellers Gesicht war grau und zernarbt. Jerry hatte ihn in den sechziger Jahren im Kongo näher kennengelernt, wo Keller sich die Hand verbrannte, als er ein Kind aus einem Lastwagen zog. Jetzt waren die Finger zusammengeschweißt wie Schwimmflossen, aber sonst hatte er sich nicht verändert. Jerry konnte sich so genau an diesen Vorfall erinnern, weil er das andere Ende des Kindes gehalten hatte.
»Das Comic möchte, daß ich mich hier umsehe«, sagte Jerry. »Können Sie das denn noch?«
Jerry lachte, und Keller lachte, und sie tranken Whisky in der Bar, bis der Wagen fertig war, und plauderten über alte Zeiten. Am Haupteingang lasen sie ein Mädchen auf, das den ganzen Tag lang auf Keller gewartet hatte, eine hochgewachsene Kalifornierin mit zuviel Fotoausrüstung und langen unruhigen Beinen. Da die Telefone nicht funktionierten, wollte Jerry unbedingt an der britischen Botschaft aussteigen und die Einladung beantworten. Keller war nicht sehr höflich.
»Sind Sie eine Art Spion oder so geworden, Westerby, daß Sie Ihre Storys abstimmen und den Bonzen in den Hintern kriechen, damit Sie den rechten Background kriegen und eine Pension nebenbei oder was?« Es gab Leute, die sagten, genau dies sei Kellers Fall, aber es gibt immer Leute.
»Klar«, sagte Jerry. »Schon seit Jahren.« Die Sandsäcke am Eingang waren neu, und neue Granatabfanggitter glitzerten in der prallen Sonne. In der Halle empfahl ein großes mehrteiliges Plakat mit jener grenzenlosen Sachfremdheit, wie sie ausschließlich Diplomaten zustande bringen, »Britische Hochleistungswagen«, in einer Stadt ohne einen Tropfen Treibstoff, und zeigte fröhliche Fotos verschiedener unerreichbarer Modelle. »Ich will dem Herrn Botschaftsrat bestellen, daß Sie die Einladung angenommen haben«, sagte der Herr am Empfang feierlich. Der Mercedes roch noch immer ein bißchen warm vom Blut, aber der Chauffeur hatte die Klimaanlage eingeschaltet. »Was tun die denn da drinnen, Westerby?« fragte Keller. »Stricken oder was?«
»Oder was«, sagte Jerry, und sein Lächeln galt der Kalifornierin. Jerry saß vorn, Keller und das Mädchen hinten. »Okay. Also hören Sie zu«, sagte Keller. »Klar«, sagte Jerry.
Jerry hatte sein Notizbuch aufgeschlagen und kritzelte, während Keller sprach. Das Mädchen trug einen kurzen Rock, und Jerry und der Fahrer konnten ihre Schenkel im Spiegel sehen. Keller hatte die gute Hand auf ihrem Knie. Sie hieß ausgerechnet Lorraine und unternahm, genau wie Jerry, angeblich eine Tour durch die Kriegsgebiete im Auftrag ihres Mittelwest-Zeitungskartells. Bald waren sie das einzige Auto. Dann hörten auch die Rikschas auf, und sie sahen nur noch Bauern und Fahrräder und Büffel und die blühenden Büsche des nahenden Landes: »Schwere Kämpfe auf allen Hauptverbindungsstraßen«, leierte Keller etwa in Diktiertempo. »Raketenangriffe bei Nacht, Plastikbomben tagsüber, Lon Nol hält sich noch immer für einen Gott, und die US-Botschaft unterstützt ihn anfallsweise und versucht dann, ihn rauszuwerfen.« Er gab statistische Zahlen über Rüstungsstärke, Verluste, Höhe der US-Hilfe. Er nannte Generale, von denen man wußte, daß sie amerikanische Waffen an die Roten Khmer verkauften, und Generale, die Gespensterarmeen befehligten, um den Sold der Truppen einzusacken, und Generale, die beides taten. »Alles in bester Unordnung. Böse Buben sind zu schwach, um die Städte einzunehmen, brave Buben sind schon zu sehr auf dem Hund, um das flache Land einzunehmen, und niemand hat Lust zum Kämpfen außer den Korns. Die Studenten wollen die ganze Stadt anzünden, wenn sie nicht mehr vom Kriegsdienst befreit werden, Hungeraufstände gibt's jetzt täglich, Korruption, als gäbe es kein Morgen, niemand kann von seinem Gehalt leben, Vermögen werden gemacht, und das Land verblutet. Der Palast lebt nicht in der Wirklichkeit, und die Botschaft ist ein Irrenhaus, mehr Spione als anständige Kerle, und jeder behauptet, ein Geheimnis zu hüten. Möchten Sie noch mehr?«
»Wie lange geben Sie dem Krieg noch?«
»Eine Woche. Zehn Jahre.«
»Wie steht's mit den Fluglinien?«
»Die Fluglinien sind alles, was wir noch haben. Der Mekong ist praktisch tot, die Straßen dito. Die Fluglinien haben das ganze Feld für sich. Wir haben eine Story darüber gemacht. Haben Sie sie gesehen? Wurde total verrissen. Herrje«, sagte er zu dem Mädchen. »Warum muß ich das Ganze für die Insulaner nochmals durchpauken?«
»Weiter«, sagte Jerry und schrieb.
»Vor sechs Monaten hatte diese Stadt fünf eingetragene Luftfahrtgesellschaften. In den letzten drei Monaten wurden vierunddreißig neue Lizenzen ausgestellt, und noch ein weiteres Dutzend steckt in der Röhre. Übliche Taxe drei Millionen Riels an den Minister persönlich und zwei Millionen an seine Umgebung verteilt. Weniger, wenn man in Gold bezahlt, noch weniger in fremder Währung. Wir machen jetzt Route Nummer dreizehn«, sagte er zu dem Mädchen. »Vielleicht wollen Sie sich mal umsehen.«
»Großartig«, sagte das Mädchen und preßte die Knie zusammen, so daß Kellers gute Hand eingezwickt war.
Sie fuhren an einer Statue mit abgeschossenen Armen vorbei, und danach folgte die Straße den Windungen des Flusses.
»Das heißt, wenn's unser Westerby noch schafft«, fügte Kellerais Nachtrag hinzu.
»Ach, ich glaube, ich bin soweit in Form«, sagte Jerry, und das Mädchen lachte und schlug sich für den Moment auf seine Seite. »Die Roten Khmer haben draußen am anderen Ufer neue Stellungen bezogen, honey«, erklärte Keller, vorwiegend an das Mädchen gewandt. Jenseits des braunen, schnellen Wassers sah Jerry ein paar T 28 herumstochern, als suchten sie nach etwas zum Beschießen. Ein Feuer brannte, ein ziemlich großes, und die Rauchsäule stieg kerzengerade in den Himmel wie ein gottgefälliges Opfer.