Mit einem Krachen wie von herabfallenden Ziegeln klatschte eine Maschinengewehrsalve rings um sie ein. Unter ihnen, in der Flußböschung, verlief gottlob eine Reihe leerer Schützenlöcher, die in den Schlamm gegraben waren. Jerry hatte sie bereits gesehen. Er packte das Mädchen und zog es hinunter. Keller hatte sich schon hingeworfen. Als Jerry neben dem Mädchen lag, empfand er einen tiefen Mangel an Interesse. Besser hier ein paar Kugeln, als das, was Frosti abbekommen hatte. Die Geschosse warfen Dreckwände hoch und pfiffen über die Straße. Sie blieben liegen und warteten, daß der Beschuß aufhöre. Das Mädchen blickte erregt über den Fluß und lächelte. Sie war blauäugig, flachshaarig und nordisch. Eine Granate landete hinter ihnen in der Böschung, und zum zweitenmal zog Jerry das Mädchen zu Boden. Die Druckwelle fegte über sie hin, und als sie vorüber war, schwebten Erdfedern herab wie von einem Sühneopfer. Das Mädchen stand lächelnd auf. Wenn das Pentagon an Zivilisation denkt, dachte Jerry, denkt es an dich. Im Fort hatte der Kampf sich plötzlich verdichtet. Die Lastwagen waren verschwunden, eine dichte Wolke hatte sich zusammengezogen, ohne Pause blitzten und krachten Granatwerfer, leichtes Maschinengewehrfeuer forderte heraus und antwortete sich selber durch forcierte Geschwindigkeit. Kellers narbiges Gesicht erschien bleich wie der Tod über dem Rand seines Schützenlochs.
»Die Roten Khmer heizen ihnen ein«, schrie er. »Über dem Fluß, vorne, und jetzt von der anderen Flanke. Wir hätten die andere Straße nehmen sollen!«
Herrje, dachte Jerry, als ihm die übrigen Erinnerungen zurückkamen, Keller und ich haben auch einmal um ein Mädchen gekämpft. Er versuchte sich zu erinnern, wer sie gewesen war und wer gewonnen hatte.
Sie warteten. Das Feuer erstarb. Sie gingen zurück zum Wagen und kamen rechtzeitig zur Gabelung, um den abziehenden Konvoi zu treffen. Tote und Verwundete lagen am Straßenrand, zwischen ihnen kauerten Frauen und fächelten die betroffenen Gesichter mit Palmwedeln. Wieder stiegen sie aus. Flüchtlinge zerrten Büffel und Karren und einander die Straße entlang und schrien die Schweine und die Kinder an. Eine alte Frau kreischte beim Anblick der Kamera auf, weil sie das Objektiv für einen Gewehrlauf hielt. Geräusche schwirrten durch die Luft, die Jerry nicht lokalisieren konnte, ähnlich dem Klingeln von Fahrradglocken und einem Wimmern; und Geräusche, die er identifizieren konnte, so das trockene Schluchzen der Sterbenden und das Dröhnen näher kommenden Granatfeuers. Keller lief neben einem Lastwagen her und versuchte einen englischsprechenden Offizier zu finden; Jerry hastete neben Keller her und brüllte die gleichen Fragen auf französisch.
»Ach hol's der Teufel«, sagte Keller plötzlich gelangweilt. »Fahren wir heim.« Mit englischer Herrchenstimme näselte er »dieses Volk und dieser entsetzliche Lärm.« Sie kehrten zu ihrem Mercedes zurück.
Eine Weile steckten sie mitten in der Kolonne. Die Lastwagen drängten sie an den Wegrand, und Flüchtlinge klopften höflich ans Fenster und fragten, ob sie mitfahren dürften. Einmal glaubte Jerry, Deathwish den Hunnen auf dem Sozius eines Krads zu sehen. An der nächsten Gabelung befahl Keller dem Chauffeur, links abzubiegen.
»Ist privater«, sagte er und legte die gute Hand wieder auf das Knie des Mädchens. Aber Jerry dachte an Frost im Leichenschauhaus und an das Weiß seines schreienden Kiefers.
»Mein altes Mütterchen hat's mir immer gesagt«, erklärte Keller in volkstümelndem Knautschton: >Mein Sohn, geh im Dschungel nie den gleichen Weg zurück, den du gekommen bist.< Hon?«
»Ja?«
»Hon, jetzt ist Ihre Unschuld flöten. Entbiete meinen untertänigsten Glückwunsch.« Seine Hand rutschte noch ein bißchen höher. Nun stürzte Wasserrauschen über sie herein wie aus einer Unzahl geborstener Rohre, als ein Wolkenbruch niederging. Sie kamen durch eine Ansiedlung voller Hühner, die wild auseinanderstoben. Ein Barbiersessel stand leer im Regen. Jerry wandte sich zu Keller um.
»Diese Sache über die Wirtschaft im belagerten Land«, begann er von neuem, als sie ihr Interesse wieder einander widmeten. »Marktbeherrschende Kräfte und so weiter. Glauben Sie, diese Story könnte gehen?«
»Könnte schon«, sagte Keller leichthin. »Ist schon ein paarmal gegangen. Aber es gibt immer Varianten.«
»Wer sind die Hauptmacher?«
Keller nannte einige.
»Indocharter?«
»Indocharter gehört auch dazu«, sagte Keller. Jerry machte einen kühnen Vorstoß:
»Ein Clown namens Charlie Marshall fliegt für sie, Halbchinese.
Jemand hat gesagt, er würde reden. Kennen Sie ihn?«
»Nö.«
Er fand, daß er weit genug gegangen war. »Welche Maschinen verwenden sie vorwiegend?«
»Was sie kriegen können. DC 4 zum Beispiel. Eine genügt nicht. Man muß mindestens zwei haben, eine zum Fliegen, die andere zum Ausschlachten für Ersatzteile. Billiger, eine Maschine am Platz zu halten und auszuschlachten als den Zoll zu bestechen, damit man die Ersatzteile auslösen kann.«
»Wie hoch ist der Profit.«
»Nicht druckbar.«
»Viel Opium dabei?«
»Draußen am Bassac ist eine ganze verdammte Raffinerie. Sieht aus wie zu Zeiten der Prohibition. Ich kann eine Besichtigung arrangieren, wenn's das ist, was Sie interessiert.« Das Mädchen Lorraine hatte sich dem Fenster zugewandt und starrte in den Regen hinaus.
»Ich sehe keine Kinder, Max«, verkündete sie. »Sie sagten, ich soll Ausschau halten, ob Kinder da sind oder nicht. Ich habe also Ausschau gehalten, und sie sind verschwunden.« Der Fahrer hielt den Wagen an. »Es regnet, und ich habe mal gelesen, wenn es regnet, kommen die Kinder in Asien aus den Hütten zum Spielen. Also, wo sind die Kinder?« sagte sie. Aber Jerry interessierte sich nicht dafür, was sie mal gelesen hatte. Er duckte sich und lugte durch die Windschutzscheibe, alles zur gleichen Zeit, als er sah, was der Fahrer gesehen hatte, und seine Kehle wurde trocken. »Sie sind der Boß, altes Haus«, sagte er ruhig zu Keller. »Ihr Wagen, Ihr Krieg und Ihr Mädchen.«
Zu seinem Schmerz sah Jerry im Spiegel, wie sich in Kellers Bimssteingesicht Erfahrung und Unvermögen mischten.
»Fähren Sie langsam auf sie zu«, sagte Jerry, als er nicht länger warten konnte. »Lentement.«
»Ja, gut so«, sagte Keller. »Tun Sie das.«
Fünfzig Yards vor ihnen, in strömenden Regen gehüllt, hatte sich ein grauer Lastwagen quer über den Weg gestellt und ihn blockiert. Im Spiegel war ein zweiter Lastwagen hinter ihnen auszumachen, der den Rückweg versperrte.
»Besser, wir zeigen unsere Hände«, stieß Keller heiser hervor. Mit der guten Hand kurbelte er sein Fenster herunter. Das Mädchen und Jerry taten es ihm nach. Jerry wischte den Beschlag von der Windschutzscheibe und legte beide Hände auf das Ablagebrett.
Der Fahrer hielt das Steuer ganz oben.
»Sie dürfen sie nicht anlächeln, Sie dürfen sie nicht ansprechen«, befahl Jerry.
»Herrje«, sagte Keller. »Heiliger Gott.«
In ganz Asien, dachte Jerry, schrieben die Reporter ihre Lieblingsgeschichten über das, was die Roten Khmer einem antaten, und die meisten waren wahr. In diesem Fall wäre sogar Frost für sein vergleichsweise friedliches Ende dankbar gewesen. Jerry kannte Reporter, die immer Gift bei sich hatten, sogar eine versteckte Pistole, um sich eben diesen Fall zu ersparen. Wenn man gefangen wird, so ist die erste Nacht die einzige zum Fliehen, erinnerte er sich: ehe sie einem die Schuhe weggenommen haben, die Gesundheit und Gott weiß was noch alles. Die erste Nacht ist die einzige Chance, sagt der Volksmund. Er überlegte, ob er es dem Mädchen erzählen sollte, aber er wollte Keller nicht zu nahetreten. Sie pflügten sich im ersten Gang mit wimmerndem Motor voran. Der Regen flog über den Wagen hin, donnerte aufs Dach, klatschte auf die Kühlerhaube und peitschte durch die offenen Fenster. Wenn' wir steckenbleiben, sind wir erledigt, dachte er. Der Lastwagen vor ihnen hatte sich noch immer nicht bewegt, und er war jetzt nicht mehr als fünfzehn Yards entfernt, ein glänzendes Ungeheuer in der Sintflut. Im dunklen Führerstand des Lastwagens sahen sie magere Gesichter ihr Herannahen beobachten. In letzter Sekunde stieß der Laster ins Gebüsch zurück und machte gerade so viel Platz, daß sie durchkonnten. Der Mercedes schlingerte. Jerry mußte sich am Türholm festhalten, um nicht auf den Fahrer zu fallen. Die beiden Außenräder glitschten und winselten, die Kühlerhaube schaukelte und wäre um ein Haar mit der Stoßstange des Lastwagens zusammengestoßen. »Keine Nummernschilder«, flüsterte Keller. »Herrje.«