»Langsam«, warnte Jerry den Fahrer. »Toujours lentement. Keine Scheinwerfer.« Er ließ die Augen nicht vom Rückspiegel. »Und das waren die schwarzen Pyjamas?« sagte das Mädchen aufgeregt. »Und Sie haben mich nicht einmal ein Bild schießen lassen?«
Niemand sprach.
»Was wollen sie? Auf wen lauern sie?« wollte das Mädchen wissen.
»Auf jemand anderen«, sagte Jerry. »Nicht auf uns.«
»Irgend ein paar Strolche hinter uns« sagte Keller. »Wen interessiert's?«
»Sollten wir nicht jemanden warnen?«
»Haben nicht die Vorrichtung dazu«, sagte Keller.
Hinter sich hörten sie Schüsse, aber sie fuhren weiter.
»Scheißregen«, flüsterte Keller, mehr zu sich selber. »Warum zum Teufel muß es plötzlich regnen?«
Dabei hatte es fast aufgehört zu regnen.
»Aber Herrje, Max«, protestierte das Mädchen, »wenn sie uns schon so schön in der Zange haben, warum erledigen sie uns dann nicht?«
Ehe Keller antworten konnte, tat es der Fahrer, auf Französisch, sanft und höflich, - und nur Jerry verstand es. »Wenn sie kommen wollen, dann kommen sie«, sagte er und lächelte sie im Spiegel an. »Bei schlechtem Wetter. Während die Amerikaner nochmals fünf Meter Beton aufs Dach ihrer Botschaft pflanzen, und die Soldaten in Regenumhängen unter ihren Bäumen kauern, und die Journalisten Whisky trinken, und die Generale in der fumerie sind, werden die Roten Khmer aus dem Dschungel kommen und uns die Kehlen durchschneiden.«
»Was hat er gesagt?« fragte Keller. »Übersetzen Sie das, Westerby.«
»ja, was war das alles?« sagte das Mädchen. »Es hat sich ganz großartig angehört. Wie eine ganz tolle Idee oder sowas.«
»Hab's ehrlich gesagt nicht recht mitgekriegt, altes Haus. War ein bißchen zu schnell für mich.«
Alle brachen in Lachen aus, in viel zu lautes Lachen, auch der Fahrer.
Und während der ganzen Zeit, stellte Jerry fest, hatte er an nichts und an niemanden gedacht, außer an Lizzie. Nicht unter Ausschluß der Gefahr - ganz im Gegenteil. Wie der strahlende Sonnenschein, der jetzt alles überflutete, war sie sein Siegespreis.
Im Phnom verglommen auf der Pool-Seite die letzten Strahlen der Sonne. In der Stadt hatte es nicht geregnet. Eine feindliche Rakete, die nahe der Mädchenschule einschlug, hatte acht oder neun Kinder getötet. Der Gehilfe aus den Südstaaten war gerade zurückgekommen und hatte die Opfer gezählt.
»Wie hat sich Maxie beim päng-päng gehalten?« fragte er Jerry, als sie sich in der Halle begegneten. »Scheint mir, daß seine Nerven in letzter Zeit ein bißchen ausfransen.«
»Geh mir mit deiner feixenden Visage aus den Augen«, riet Jerry ihm, »sonst schlag ich sie dir ein.« Immer noch feixend entfernte sich der Südstaatler.
»Wir können uns morgen treffen«, sagte das Mädchen ZU Jerry.
»Morgen ist mein ganzer Tag frei. Vielleicht können wir uns ein paar Opiumhöhlen ansehen oder dergleichen?«
Hinter ihr stapfte Keller langsam die Treppen hoch, eine gebeugte Gestalt in einärmeligem Hemd, die sich am Geländer in die Höhe zog.
»Wir können uns sogar heute Abend treffen, wenn Sie mögen«, sagte Lorraine.
Eine Weile saß Jerry allein in seinem Zimmer und schrieb Postkarten an Cat. Dann machte er sich auf den Weg zu Max' Büro. Er hatte noch ein paar Fragen über Charlie Marshall. Außerdem konnte er sich vorstellen, daß Max seine Gesellschaft recht wäre. Nach getaner Pflicht nahm er eine Rikscha und fuhr nochmals hinaus zu Charlie Marshalls Haus, aber so viel er auch an die Tür bullerte und rief, er bekam wiederum nur die gleichen nackten braunen Beine zu sehen, die regungslos am Fuß der Treppe standen, diesmal bei Kerzenlicht. Aber die Seite, die er aus seinem Notizbuch gerissen und hinterlegt hatte, war verschwunden. Er kehrte in die Stadt zurück und ließ sich, da er noch immer eine Stunde totzuschlagen hatte, auf einem von etwa hundert leeren Stühlen eines Straßencafes nieder, trank einen langen Pernod und dachte daran, wie einst die Mädchen der Stadt auf ihren kleinen geflochtenen Wägelchen an ihm vorbeidefiliert waren und in französischem Singsang Klischees von Liebe geflüstert hatten. Heute Nacht erbebte die Luft von nichts Liebevollerem als dem dumpfen Dröhnen des gelegentlichen Geschützfeuers, während die Stadt sich duckte und auf den Einschlag wartete.
Und doch ging die größte Furcht nicht von den Schüssen aus, sondern von der Stille. Denn, wie der Dschungel selber, war diese Stille, nicht der Beschuß das natürliche Element des herannahenden Feindes.
Wenn ein Diplomat jemanden sprechen will, dann denkt er als erstes an eine Mahlzeit, und in diplomatischen Kreisen wurde wegen der nächtlichen Ausgangssperre früh gespeist. Nicht daß Diplomaten solchen Härten unterworfen gewesen wären, aber es gehört zu der reizenden Arroganz der Diplomaten in der ganzen Welt, daß sie mit gutem Beispiel voranzugehen glauben - wem oder was, das weiß der Teufel. Das Haus des Botschaftsrats lag in einer flachen, grünen Enklave, die an Lon Nols Palast grenzte. Als Jerry ankam entließ gerade eine offizielle Limousine ihre Insassen in die Auffahrt, bewacht von einem Jeep voller Milizsoldaten. Entweder gekrönte Häupter oder Kirchenfürsten, dachte Jerry, als er ausstieg; aber es waren nur ein amerikanischer Diplomat und seine Frau, die zum Essen kamen.
»Ah, Sie müssen Mr. Westerby sein«, sagte seine Gastgeberin. Sie war hochgewachsen, elegant und amüsierte sich darüber, daß jemand Journalist sein konnte, wie sie sich über jeden amüsierte, der nicht Diplomat war, und zwar im Rang eines Botschaftsrats. »John brennt darauf, Sie kennenzulernen«, erklärte sie strahlend, und Jerry nahm an, sie wolle ihm die Befangenheit nehmen. Er folgte dem Zug die Treppe hinauf. Sein Gastgeber stand oben, ein drahtiger gebeugter Mann mit Schnurrbärtchen und einer Jungenhaftigkeit, die Jerry üblicherweise eher bei der Geistlichkeit gesucht hätte.