»John, darling«, fragte sie mit ihrer gastlichsten Stimme, »ging das herein oder hinaus?«
»Hinaus«, erwiderte er lachend. »Oh, entschieden hinaus. Frag unseren Freund, den Journalisten, wenn du mir nicht glaubst. Er hat schon einige Kriege hinter sich, nicht wahr, Westerby?« Worauf das Schweigen sie wiederum vereinte wie ein verbotenes Thema. Die amerikanische Dame klammerte sich an den Grundbesitz in Vermont: vielleicht sollten sie schließlich doch dort bauen. Vielleicht war es jetzt Zeit:
»Vielleicht sollten wir doch dem Architekten schreiben«, sagte sie. »Vielleicht sollten wir das«, pflichtete ihr Mann bei - und in diesem Augenblick gerieten sie in eine regelrechte Schlacht. Aus nächster Nähe erleuchtete eine langgezogene Flaksalve die Wäsche im Hof, und eine Gruppe MGs, mindestens zwanzig, knatterten anhaltend und verzweifelt. Im Aufblitzen der Schüsse sahen sie die Dienerschaft ins Haus eilen, und durch das Feuern hörten sie, wie Befehle gegeben und beantwortet wurden, beides schreiend, und das irre Bimmeln von Handgongs. Im Speisezimmer bewegte sich niemand, nur der amerikanische Diplomat hob das Walkie-Talkie an die Lippen, zog die Antenne aus und flüsterte etwas, ehe er das Gerät ans Ohr hielt. Jerry blickte auf seine Knie und sah die Hand der Gräfin sich vertrauensvoll um die seine schmiegen. Ihre Wange streifte seine Schulter. Der Geschützlärm ließ nach. Er hörte ganz in der Nähe eine kleine Bombe fallen. Keine Erschütterung, nur die Kerzenflammen neigten sich grüßend, und auf dem Kaminsims fielen ein paar schwere Einladungskarten klatschend um und blieben liegen, die einzigen sichtbaren Gefallenen. Dann hörten sie als letztes und einzelnes Geräusch das Heulen einer abfliegenden einmotorigen Maschine wie fernes Kinderweinen. Es wurde vom fröhlichen Gelächter des Botschaftsrats übertönt, der zu seiner Frau sagte: »Also, das war nicht die Mondfinsternis, fürchte ich, wie, Hills? Das war die Ehre und das Vergnügen, Lon Nol als Nachbarn zu haben. Einer von seinen Piloten wird dann und wann ungeduldig, weil er keinen Sold bekommt, und dann steigt er auf und bombardiert auf gut Glück den Palast. Darling, wie wär's, wenn du die Mädels mitnähmst, damit sie sich die Nase pudern können oder was immer ihr so macht?«
Es ist Zorn, dachte Jerry, als er wiederum den Blick des Amerikaners auffing. Er sieht aus wie ein Mann, der den Armen das Heil bringen möchte, und statt dessen seine Zeit mit den Reichen verplempern muß.
Drunten standen Jerry, der Botschaftsrat und der Amerikaner schweigend im Arbeitszimmer im Erdgeschoß. Der Botschaftsrat war jetzt von wölfischem Argwohn.
»Ja, weih, sagte er. »Ich habe Sie jetzt miteinander bekannt gemacht und laß Sie vielleicht am besten allein. Whisky ist in der Karaffe, recht so, Westerby?«
»Recht so, John«, sagte der Amerikaner, aber der Botschaftsrat schien nicht gehört zu haben.
»Und vergessen Sie nicht, Westerby: die Vollmacht liegt bei uns, ja? Wir halten das Bett warm. Ja?« Er wackelte warnend mit dem Finger und verschwand.
Das Arbeitszimmer war mit Kerzen erleuchtet, ein kleiner, männlich wirkender Raum ohne Spiegel oder Bilder, nur eine geriefte Teakholzdecke und ein grüner Metallschreibtisch, und der Eindruck, draußen in der Dunkelheit herrsche nun wieder tödliche Stille, obwohl die Gekkos und die Ochsenfrösche das raffinierteste Mikrophon außer Gefecht gesetzt hätten. »Heh, überlassen Sie das mir«, sagte der Amerikaner, als Jerry zur Anrichte gehen wollte, und machte eine Show daraus, die richtige Mischung für ihn herzustellen: »Wasser oder Soda, Vorsicht, daß ich ihn nicht ersäufe.«
»Scheint ein bißchen umständlich, auf diese Weise zwei Freunde zusammenzubringen«, sagte der Amerikaner in krampfhaftem Plauderton von der Anrichte her, während er die Drinks eingoß. »Könnte man sagen.«
»John ist ein feiner Kerl, aber er hat's mit dem Protokoll. Ihre Leute haben zur Zeit hier keine Stütze, aber sie haben gewisse Rechte, und John möchte alles tun, um zu verhindern, daß sieden Ball endgültig verlieren. Ich kann seinen Standpunkt verstehen. Ich respektiere ihn. Nur erfordern diese Dinge eben manchmal ein bißchen mehr Zeit.«
Er reichte Jerry einen länglichen braunen Umschlag, den er aus der Brusttasche des karierten Jacketts gezogen hatte, und sah mit der gleichen gewichtigen Intensität zu, wie Jerry das Siegel erbrach. Das Papier fühlte sich schmierig an, wie eine Fotokopie. Irgendwo greinte ein Kind und wurde beschwichtigt. Die Garage, dachte er: die Dienstboten haben Flüchtlinge in der Garage untergebracht, und der Botschaftsrat darf es nicht wissen. DROGENFAHNDUNG SAIGON meldet Charlie MARSHALL, wdh. MARSHALL planmäßig nach Battambang ETA 1930 morgen via Peilin . . . umgebaute DC 4 Carvair, Abzeichen Indocharter Frachtbrief gibt an gemischte Ladung . . . planmäßig Weiterflug Phnom Penh.
Dann las er Uhrzeit und Datum der Übermittlung, und Zorn fiel ihn an wie eine Sturmbö. Er erinnerte sich an sein gestriges Herumrennen in Bangkok und an die heutige hirnrissige Taxifahrt mit Keller und dem Mädchen, und er schleuderte die Mitteilung mit einem »Herrgott!« zwischen ihnen auf den Tisch. »Wie lange haben Sie schon darauf gesessen? Das ist nicht morgen, das ist heute abend!«
»Leider konnte unser Gastgeber die Hochzeit nicht früher arrangieren. Sein Einladungsprogramm ist außerordentlich gedrängt. Viel Glück.«
Er war genauso zornig wie Jerry, nahm wortlos das Fernschreiben wieder an sich, steckte es in die Tasche seines karierten Jacketts und verschwand nach oben zu seiner Gattin, die damit beschäftigt war, die mittelmäßige Sammlung geklauter Buddhas ihrer Gastgeberin zu bewundern.
Jerry blieb allein zurück. Eine Rakete fiel, und seine Zeit war bemessen. Die Kerzen erloschen, und am Nachthimmel schien endlich die ganze Spannung dieses illusorischen und grotesken Krieges zu platzen. Blindlings fielen die Maschinengewehre in den allgemeinen Krach ein. Der kleine kahle Raum mit seinem Fliesenfußboden ratterte und summte wie ein Tongenerator. Nur um ebenso unvermittelt wieder aufzuhören und die Stadt dem Schweigen zu überlassen.
»Stimmt was nicht, alter Junge?« erkundigte sich der Botschaftsrat herzlich von der Tür her. »Der Yankee hat Sie gegen den Strich gebürstet, was? Sieht aus, als wollten sie jetzt die ganze Welt allein regieren.«
»Ich muß eine Option für sechs Stunden haben«, sagte Jerry. Der Botschaftsrat begriff nicht ganz, was er meinte. Nachdem Jerry es ihm erklärt hatte, trat er rasch in die Nacht hinaus.
»Sie haben ein Gefährt, ja, alter Junge? Sehr gut. Andernfalls erschießen sie Sie. Passen Sie auf sich auf.«
Er schritt kräftig aus, Zorn und Abscheu beflügelten ihn. Der Zapfenstreich war längst vorbei. Er sah keine Straßenlampen, keine Sterne. Der Mond war verschwunden, und das Quietschen seiner Kreppsohlen begleitete ihn wie ein unerwünschter, unsichtbarer Weggenosse. Das einzige Licht kam aus dem Umkreis des Palasts auf der anderen Straßenseite, aber es reichte nicht bis zu ihm. Hohe Mauern schotteten den Innenbau ab, hohe Stacheldrahtzäune krönten die Mauern, die Rohre der Flugabwehrgeschütze schimmerten bronzen vor dem schwarzen und lautlosen Himmel. Junge Soldaten dösten in Gruppen, und als Jerry an ihnen vorrübertrabte, erscholl eine neue Runde von Gongschlägen: der Wachtmeister hielt die Posten wach. Es herrschte kein Verkehr, aber zwischen den einzelnen Wachtposten hatten die Flüchtlinge das ganze Pflaster entlang ihre nächtlichen Dörfer errichtet. Einige hatten sich mit Streifen brauner Zeltbahn umwickelt, einige hatten Bretterliegen und einige kochten auf winzigen Flammen, obwohl Gott allein wußte, was sie Eßbares gefunden hatten. Einige saßen in säuberlich getrennten Standesgruppen und blickten nur einander an. Auf einem Ochsenkarren lag ein Mädchen mit einem Jungen, Kinder, so alt wie Cat gewesen war, als er sie zum letztenmal in Fleisch und Blut gesehen hatte. Aber von diesen Hunderten von Menschen kam kein Laut, und nachdem er eine Strecke weit gegangen war, drehte er sich um und sah nach ihnen, ob sie wirklich dort waren. Wenn ja, dann verbarg sie das Dunkel und die Stille. Er dachte an die Dinnerparty. Sie hatte in einem anderen Land stattgefunden, in einer anderen Welt. Jerry war hier völlig unbedeutend, und doch hatte auch er zu diesem Debakel beigetragen, »lind vergessen Sie nicht, wir haben die Vollmacht, ja? Wir halten das Bett warm.«