Er trug Schreibmaschine und Schultertasche mit sich. Er sah keine anderen Rundaugen. Er sah Korbflechter, Häute- und Obsthändler, und wieder einmal lagen die unvermeidlichen Flaschen mit dem gestohlenen Benzin am Gehsteig aufgereiht und warteten auf einen Angriff, der sie in die Luft jagen würde. In einem Spiegel, der in einem Baum hing, sah er zu, wie ein Zahnarzt einem in einen hohen Stuhl geschnallten Patienten Zähne zog und wie der Zahn mit der roten Wurzel zu den anderen feierlich an die Schnur gehängt wurde, an der das Tagessoll aufgefädelt war. Das alles hielt Jerry demonstrativ in seinem Notizbuch fest, wie es einem gewissenhaften Berichterstatter des Alltagslebens anstand. Und von einem Straßencafe aus, wo er kaltes Bier und frischen Fisch zu sich nahm, beobachtete er die schmutzigen, halbverglasten Räume mit der Aufschrift »Indocharter« jenseits der Straße und wartete, daß jemand kommen und die Tür aufschließen würde. Niemand kam. Captain Marshall fliegt nie am Vormittag, Monsieur. In einer Drogerie, die vor allem Kinderfahrräder feilbot, erstand er eine Rolle Heftpflaster, und als er wieder in seinem Hotelzimmer war, klebte er sich die Walther an die Rippen, damit sie nicht in seinem Hosenbund herumrutschte. Also ausgerüstet machte sich der furchtlose Journalist auf, um ein weiteres Stück seiner Legende zu leben - was zuweilen, in der Psychologie eines Außenagenten, nichts weiter ist als ein acte gratuit der Selbstbestätigung, wenn es anfängt, brenzlig zu werden. Der Wohnsitz des Gouverneurs lag am Stadtrand, hinter einer Veranda und einem Portal im französischen Kolonialstil. Ihm unterstand ein siebzigköpfiges Sekretariat. Die weite Zementhalle führte in einen nicht zu Ende gebauten Warteraum und dahinter zu bedeutend kleineren Büros. In eines davon wurde Jerry nach fünfzig Minuten Wartezeit eingelassen und sah sich einem, winzigen, sehr vorgesetzt wirkenden Kambodschaner im schwarzen Anzug gegenüber, der von Phnom Penh hierhergeschickt worden war, um lästige Korrespondenten abzufertigen. Es hieß, er sei der Sohn eines Generals und manage den Battambang-Abschnitt des Opiumhandels seiner Familie. Der Schreibtisch war viel zu groß für ihn. Mehrere Hofchargen lungerten herum und sahen sämtlich sehr ernst aus. Einer trug Uniform und eine Menge Ordensbänder. Jerry fragte nach eingehenden Hintergrundinformationen und stellte eine Liste mehrerer reizender Träume auf: daß der kommunistische Feind so gut wie geschlagen sei; daß die Wiedereröffnung des gesamten nationalen Verkehrsnetzes ernsthaft diskutiert werde; daß der Tourismus die Wachstumsindustrie der Provinz sei. Der Sohn des Generals sprach ein langsames, wunderschönes Französisch und hörte sich offensichtlich mit größtem Genuß reden, denn beim Sprechen hielt er die Augen geschlossen und lächelte, als lausche er seiner Lieblingsmelodie. »Ich darf zum Abschluß, Monsieur, ein warnendes Wort anfügen, das Ihrem Land gilt. Sind Sie Amerikaner?«
»Engländer.«
»Das kommt aufs gleiche hinaus. Sagen Sie Ihrer Regierung, Sir:
wenn Sie uns nicht helfen, den Kampf gegen die Kommunisten fortzuführen, dann gehen wir zu den Russen und bitten sie, Ihre Stelle in unserem Ringen einzunehmen.«
O Mutter, dachte Jerry. O Junge. O Gott.
»Ich werde Ihre Botschaft weitergeben«, versprach er und schickte sich an, zu gehen.
»Un instant, Monsieur«, sagte der höhere Beamte scharf, und seine dösenden Hofschranzen regten sich. Er zog eine Schublade auf und brachte einen imposanten Hefter zum Vorschein. Frosts Testament, dachte Jerry. Mein Todesurteil. Briefmarken für Cat. »Sie sind Schriftsteller?«
»Ja.«
Ko greift nach mir. Heute nacht Knast, und morgen wache ich mit durchgeschnittener Kehle auf.
»Waren Sie an der Sorbonne, Monsieur?« erkundigte sich der Beamte.
»Oxford.«
»Oxford in London?«
»Ja.«
»Dann haben Sie die großen französischen Dichter gelesen, Monsieur?«
»Mit allergrößtem Genuß«, erwiderte Jerry begeistert. Die Schranzen blickten strenger denn je.
»Dann werden Monsieur mich vielleicht mit seiner Meinung über die folgenden Verse beehren.« Mit seinem langsamen würdevollen Französisch begann der kleine Beamte laut zu lesen und skandierte die Verse mit der Hand. »Deux amants assis sur la terre Regardaient la mer«, begann er, und fuhr ungefähr zwanzig schweißtreibende Zeilen lang fort, während Jerry ratlos lauschte.
»Voilá«, sagte der Beamte schließlich und legte den Hefter beiseite. » Vous l'aimez?« wollte er wissen und richtete dabei den Blick auf eine neutrale Stelle im Raum.
»Superbe«, sagte Jerry enthusiastisch. »Merveilleux. Welche Sensibilität.«
»Von wem sind sie, Ihrer Meinung nach?«
Jerry nannte den nächstbesten Namen, der ihm einfieclass="underline" »Von Lamartine?«
Der höhere Beamte schüttelte den Kopf. Die Schranzen belauerten Jerry womöglich noch aufmerksamer. »Victor Hugo?« riet Jerry.
»Sie sind von mir«, sagte der Beamte und legte mit einem Seufzer sein Werk wieder in die Schublade. Die Schranzen entspannten sich. »Sorgen Sie dafür, daß dieser literarische Herr jede Hilfe erhält«, befahl er.
Jerry kehrte zum Flugplatz zurück und fand ein wirbelndes gefährliches Chaos. Mercedes schwirrten die Zufahrt auf und ab, als hätte jemand ihr Nest überfallen, der Vorplatz war ein Hexenkessel aus Warnlichtern, Motorrädern und Sirenen, und die Halle, wo er sich durch die Absperrung palaverte, war vollgestopft mit verängstigten Menschen, die sich drängten, um die Anschläge lesen, einander zubrüllen und die plärrenden Lautsprecher hören zu können, und das alles zur gleichen Zeit. Als Jerry sich gewaltsam einen Weg zum Informationsschalter gebahnt hatte, fand er ihn geschlossen. Er sprang auf den Tresen und konnte durch ein Loch in der Splitterschutzwand auf das Flugfeld sehen. Ein Zug bewaffneter Soldaten lief im Trab über die leere Rollbahn auf eine Gruppe weißer Masten zu, an denen schlaff die Nationalflaggen in der windstillen Luft hingen. Sie holten zwei der Flaggen auf halbmast nieder, und in der Halle unterbrachen die Lautsprecher ihre Durchsagen und plärrten ein paar Takte der Nationalhymne. Jerry suchte über die brodelnden Köpfe hinweg nach jemandem, mit dem er sprechen könnte. Er wählte einen schlanken Missionar mit kurzgeschorenem gelbem Haar, Brille und einem sechs Zoll großen silbernen Kreuz, das an die Tasche seines braunen Hemds geheftet war. Neben ihm standen kläglich zwei Kambodschaner mit gestärkten Priesterkragen. » Vous parlez francais?«
»Ja, aber ich spreche auch englisch!« Ein singender weicher Tonfall. Jerry tippte auf einen Dänen. »Presse. Was ist denn hier los?« Er brüllte, so laut er konnte. »Phnom Penh ist geschlossen«, schrie der Missionar zurück. »Keine Maschine darf starten oder landen.«
»Warum?«