Charlie Marshall nahm einen Schluck Whisky aus der Flasche, dann gab er sie Jerry. Seine fleischlosen Hände zitterten heftig, sobald er sie vom Steuerknüppel nahm, und seine Nase lief ständig. Jerry fragte sich, bei wie vielen Pfeifen pro Tag er wohl angelangt sein mochte. Er hatte einmal einen korsischen Hotelier in Luang Prabang gekannt, einen pied-noir, der sechzig nötig hatte, um sein Tagewerk ordentlich hinter sich zu bringen. Captain Marshall fliegt nie am Vormittag, dachte er.
»Die Amerikaner haben's immer eilig«, klagte Charlie Marshall kopfschüttelnd. »Wissen Sie, warum wir das Zeug da jetzt nach Phnom Penh bringen müssen? Jeder ungeduldig. Jeder will heutzutage Schnellschuß. Niemand hat Zeit zum Rauchen. Jeder will schnell antörnen. Wenn man die menschliche Rasse umlegen will, muß man sich Zeit lassen, hören Sie?« Jerry nahm einen neuen Anlauf. Einer der vier Motoren hatte den Geist aufgegeben. Ein zweiter hatte zu heulen angefangen, als wäre ein Auspuff kaputtgegangen, so daß man noch lauter brüllen mußte als vorher.
»Was hat Ricardo für soviel Geld getan?« wiederholte er. »Hören Sie zu, Voltaire, okay? Ich mag keine Politik, ich bin bloß ein einfacher Opiumschmuggler, okay? Sie mögen Politik, dann gehn Sie wieder runter und reden mit den verrückten Shans. »Politik kann man nicht essen. Politik kann man nicht vögeln. Politik kann man nicht rauchen.« Das sagt er zu meinem Vater.«
»Wer sagt das?«
»Drake Ko sagt meinem Vater, mein Vater sagt mir, und ich, ich sage der ganzen verdammten Menschheit! Drake Ko großer Philosoph, ja?«
Aus unerfindlichen Gründen verlor die Maschine stetig an Höhe, bis sie nur noch ein paar hundert Fuß über den Reisfeldern schwebte. Sie sahen ein Dorf, brennende Kochstellen und Gestalten, die wild auf die Bäume zurannten, und Jerry fragte sich ernstlich, ob Charlie Marshall etwas aufgefallen sei. Aber in letzter Sekunde lüpfte er den Hintern und beugte sich weit vor, wie ein geduldiger Jockey, und kriegte schließlich die Nase des alten Gauls wieder hoch, und dann genehmigten sie sich beide noch einen Whisky. »Kennen Sie ihn gut?«
»Wen?«
»Ko.«
»Hab' ihn nie im Leben gesehen, Voltaire. Sie wollen über Drake Ko sprechen, Sie fragen meinen Vater. Er schneidet Ihnen die Gurgel durch.«
»Und was ist mit Tiu? - Sagen Sie, wer sind die beiden mit dem Schwein?« schrie Jerry, um die Unterhaltung in Gang zu halten, während Charlie die Flasche wieder an sich nahm und einen weiteren Zug daraus tat.
»Haw-Leute, drunten aus Chiang Mai. Sorgen sich um ihren lausigen Sohn in Phnom Penh. Glauben, er ist am Verhungern, deshalb bringen sie ihm Schwein.«
»Also was ist mit Tiu?«
»Nie von Mr. Tiu gehört, verstanden?«
»Ricardo wurde vor drei Monaten droben in Chiang Mai gesehen«, brüllte Jerry.
»Ja, well, Ric ist komplett verrückt«, sagte Charlie Marshall inbrünstig. »Ric soll seinen Hintern aus Chiang Mai draußenhalten oder einer geht her und schießt ihn ihm glatt weg. Wenn sich einer tot stellen muß, soll er seine verdammte Klappe halten, ja?
Ich sage zu ihm: >Ric, du bist mein Partner. Halt deine verdammte Klappe und zieh die Rübe ein oder gewisse Leute könnten persönlich werden.<«
Die Maschine geriet in eine Regenwolke und verlor sofort rapide an Höhe. Regen rauschte über auf das blecherne Verdeck und drang durch die Fenster ein. Charlie Marshall riß ein paar Hebel nach oben und unten, man hörte einen Signalton, und am Instrumentenbrett leuchteten ein paar Lämpchen auf, die selbst durch noch so vieles Fluchen nicht zum Erlöschen gebracht werden konnten. Zu Jerrys Verwunderung begannen sie wieder zu steigen, wenngleich er inmitten der dahinrasenden Wolken den Steigungswinkel nur schwer schätzen konnte. Als er sich prüfend umblickte, sah er gerade noch, wie die bärtige dunkelhäutige Gestalt des Zahlmeisters mit der Fidel-Castro-Kappe die Kabinenleiter hinunterklomm und dabei die AK 47 am Lauf hielt. Sie stiegen immer höher, der Regen hörte auf, und die Nacht umgab sie wie eine Landschaft. Plötzlich brachen über ihnen die Sterne durch, dann etzten sie über die mondhellen Gletscherspalten der Wolkengipfel, stiegen abermals, die Wolken verschwanden endgültig, und Charlie Marshall setzte die Mütze wieder auf und verkündete, daß nunmehr beide Steuerbordmotoren jede Beteiligung an der festlichen Veranstaltung eingestellt hätten. In diesem Augenblick zwischen Himmel und Erde stellte Jerry seine kühnste Frage.
»Und wo ist Ricardo jetzt, altes Haus? Muß ihn finden, ja? Hab meiner Zeitung versprochen, daß ich mit ihm rede. Können sie doch nicht sitzenlassen, oder?«
Charlie Marshalls schläfrige Augen hatten sich fast völlig geschlossen. Er saß da wie in Trance, den Kopf zurückgelehnt; der Mützenrand bedeckte seine Nase.
»Was ist, Voltaire. Haben Sie was gesagt?«
»Wo ist Ricardo jetzt?«
»Ric?« wiederholte Charlie Marshall und sah Jerry wie verwundert an. »Wo Ricardo ist, Voltaire?«
»Genau, altes Haus. Wo ist er? Ich möchte mich mit ihm unterhalten. Dafür waren die dreihundert Piepen. Es gibt nochmals fünfhundert, wenn Sie Zeit finden könnten, uns beide zusammenzubringen.«
In jähem Erwachen fischte Charlie Marshall den Cadide heraus und schleuderte ihn Jerry in den Schoß, während er sich einem Zornausbruch überließ.
»Ich weiß überhaupt nie, wo Ricardo ist, verstanden? Ich will nie keinen Freund in meinem Leben. Wenn ich diesen blödsinnigen Ricardo sehe, schieß ich ihm auf offener Straße die Eier weg, verstanden? Er ist tot. Und er kann tot bleiben, bis er stirbt. Er sagt jedem, er ist ums Leben gekommen. Und vielleicht glaub ich diesem blöden Hund ausnahmsweise einmal!« Er steuerte die Maschine wütend in die Wolken und hielt dann im Sinkflug auf die langsamen Blitze der Artilleriestellungen vor Phnom Penh zu, um in der, wie es Jerry schien, stockfinsteren Nacht eine vollendete Dreipunktlandung zu machen. Jerry wartete auf den MG-Beschuß durch die Bodenabwehr, er wartete auf den gräßlichen Plumps, wenn sie kopfüber in einen Mammutkrater tauchen würden, aber er sah nur, und zwar ganz plötzlich, eine neuerrichtete Futtermauer aus den wohlbekannten erdgefüllten Munitionskisten, die mit offenen Armen und schwach erleuchtet darauf wartete, sie in Empfang zu nehmen. Als sie darauf zurollten, erschien vor ihnen ein brauner Jeep, an dessen Heck ein grünes Licht blinkte, als würde eine Signallampe von Hand an- und ausgeknipst. Das Flugzeug rumpelte über den Grasboden. Dicht neben der Futtermauer konnte Jerry ein paar grüne Lastwagen und ein dichtes Knäuel wartender Gestalten ausmachen, die ihnen gespannt entgegenblickten, und dahinter den dunklen Schatten einer zweimotorigen Sportmaschine. Sie kamen zum Stehen, und sogleich hörte Jerry, wie sich unterhalb ihrer Kabine die Laderaumluke kreischend öffnete, Schritte auf der Eisenleiter klapperten und Stimmen rasch Fragen und Antworten tauschten. Der Abmarsch ging so schnell vor sich, daß Jerry völlig überrumpelt war. Aber er hörte noch etwas anderes, er hörte etwas so Packendes, daß er in großen Sprüngen die Stufen in den Bauch der Maschine hinunterraste. »Ricardo!« schrie er. »Halt! Ricardo!«
Doch die einzigen verbliebenen Passagiere waren die beiden Alten, die Schwein und Paket fest umklammert hielten. Jerry packte die Eisenleiter und ließ sich im freien Fall hinunter, so daß er sich das Rückgrat prellte, als er auf die Piste schlug. Der Jeep mit den chinesischen Köchen und deren Leibgarde aus den Shans war bereits abgefahren. Im Dahinrennen sah Jerry, daß der Jeep auf ein offenes Tor am Rand des Flugfelds zuraste. Dann war er durch. Zwei Posten warfen das Tor zu und bezogen wieder davor Aufstellung. Hinter Jerry schwärmten bereits die behelmten Lastträger auf die Carvair zu. Mehrere Mannschaftswagen voller Polizisten sahen zu, und einen Augenblick lang war der törichte Europäer in Jerry versucht, anzunehmen, sie könnten den Fortgang der Handlung verzögern, bis ihm klar wurde, daß sie Phnom Penhs Empfangskommitee für eine Drei-Tonnen-Ladung Opium repräsentierten. Aber sein Hauptaugenmerk galt einem einzelnen, nämlich dem großen bärtigen Mann mit der Fidel-Castro-Kappe und der AK 47, dessen schweres Hinken wie synkopiertes Trommeln klang, als er in seinen Fliegerstiefeln die Eisenleiter hinuntergehumpelt war. Jerry sah ihn nur kurz. Die Tür der kleinen Beechcraft war schon für ihn geöffnet worden, und zwei Leute vom Bodenpersonal warteten, um ihm hineinzuhelfen. Sie streckten die Hände nach dem Gewehr aus, aber Ricardo wehrte ab. Er drehte sich um und hielt nach Jerry Ausschau. Eine Sekunde lang sahen sie einander. Jerry warf sich bereits zu Boden, Ricardo hob das Gewehr, und zwanzig Sekunden lang sah Jerry wieder sein ganzes Leben vor sich, von der Geburt bis zu diesem Augenblick, während ein paar weitere Kugeln über den kampfzerpflügten Flugplatz pfiffen. Als Jerry wieder aufblickte, hatte Ricardo das Feuer eingestellt und war bereits im Flugzeug verschwunden. Die Gehilfen zogen die Bremsklötze weg. Als die kleine Maschine sich ins Scheinwerferlicht schwang, rannte Jerry wie der Teufel auf die dunkelste Stelle des Feldes zu, ehe noch jemand zu der Ansicht gelangen könnte, seine Anwesenheit könne schlecht für's Geschäft sein.