Der Raum mußte früher das Hauptschlafzimmer gewesen sein und führte in ein zweites, kleineres Gemach. Jerrys Hand lag auf der Schulter des einen Mädchens. Das andere folgte widerstandslos. Im ersten Zimmer lagen zwölf Kunden, lauter Männer. Zwischen ihnen lagen ein paar Mädchen und flüsterten leise.
Barfüßige Kulis bewegten sich behutsam zwischen den Ruhenden und bedienten sie, steckten ein Kügelchen auf die Nadel, zündeten es an und hielten es über den Pfeifenkopf, während der Kunde einen langen und stetigen Zug tat und das Kügelchen verbrannte. Die Gespräche waren träge, leise und intim, von sanften kleinen Wellen dankbaren Gelächters unterbrochen. Jerry erkannte den weisen Schweizer von der Dinner-Party des Botschaftsrats. Er plauderte mit einem fetten Kambodschaner. Niemand interessierte sich für Jerry. Die Mädchen wiesen ihn aus, so wie damals die Orchideen in Lizzie Worthingtons Apartmenthaus. »Charlie Marshall«, sagte Jerry ruhig. Ein Kuli wies ihn in den Nebenraum. Jerry entließ die beiden Mädchen, und sie schlüpften weg. Das zweite Zimmer war kleiner. Marshall lag in einer Ecke, ein Chinesenmädchen in einem kunstvoll gearbeiteten Cheongsam kauerte über ihm und bereitete ihm die Pfeife. Jerry nahm an, sie sei die Tochter des Hauses und Charlie Marshall genieße bevorzugte Behandlung, weil er sowohl Habitue wie Stofflieferant war. Er kniete an Marshalls anderer Seite nieder. Ein alter Mann sah von der Tür her zu. Auch das Mädchen sah zu, die Pfeife noch immer in der Hand.
»Was wollen Sie, Voltaire? Warum lassen Sie mich nicht in Ruhe?«
»Bloß ein kleiner Bummel, altes Haus. Dann können Sie wieder hierher zurück.«
Jerry faßte ihn am Arm und zog ihn vorsichtig in die Höhe, das Mädchen half.
»Wie viele hat er schon gehabt?« fragte er das Mädchen. Sie hielt drei Finger hoch.
»Und wie viele raucht er gewöhnlich?« fragte er. Sie senkte lächelnd den Kopf. Eine ganze Menge mehr, hieß das. Charlie Marshall ging zuerst schwankend, aber als sie am Balkon angelangt waren, konnte er sich schon wehren, und Jerry hob ihn hoch und trug ihn über der Schulter, wie aus einem brennenden Haus, die Holztreppe hinunter und über den Hof. Der alte Mann dienerte sie unterwürfig durch die Vordertür, ein grinsender Kuli hielt das Tor zur Straße auf, und beide waren Jerry deutlich dankbar dafür, daß er soviel Takt bewies. Nach etwa fünfzig Yards kamen ein paar Chinesenjungen auf dem Weg dahergerannt, sie brüllten und schwangen Stöcke wie kleine Paddel. Jerry setzte Charlie Marshall aufrecht an den Wegrand, hielt ihn aber mit der linken Hand fest, ließ den ersten Jungen zum Schlag ausholen, unterlief das Paddel und versetzte dem Jungen einen sehr harten Zwei-Knöchel-Schlag direkt unters Auge. Der Junge rannte davon, sein Freund hinterher. Jerry zog Charlie Marshall wieder hoch und marschierte mit ihm, bis sie den Fluß und eine pechdunkle Stelle erreichten, dann setzte er ihn wie eine Marionette auf das trockene Gras der Böschung. »Woll'n Sie mir jetzt das Hirn aus dem Kopf blasen, Voltaire?«
»Das werden wir wohl dem Opium überlassen müssen, altes Haus«, sagte Jerry.
Jerry mochte Charlie Marshall, und in einer heilen Welt hätte er mit Freuden einen Abend mit ihm in der fumerie verbracht und sich die Geschichte seines unseligen, aber außergewöhnlichen Lebens angehört. Jetzt aber hielt seine Faust Charlie Marshalls mageren Arm unbarmherzig umklammert, für den Fall, daß er ixt seinem hohlen Kopf Fluchtpläne hegte; denn es sah so aus, als könne Charlie unheimlich schnell rennen, wenn ihn die Verzweiflung packte. Also lag Jerry, ähnlich wie damals neben dem Zauberberg aus alten Schätzen in Old Pets Wohnung, auf der linken Hüfte und dem linken Ellbogen und hielt Charlie Marshalls Handgelenk im Schlamm fest, während Charlie Marshall flach auf dem Rücken lag. Vom Fluß, dreißig Fuß unter ihnen, kam das leise Singen der Sampans herauf, die wie lange Blätter auf dem goldenen Mondpfad dahinglitten. Vom Himmel her kamen - bald vor, bald hinter ihnen - die unregelmäßigen, gezackten Blitze des Mündungsfeuers der stadtauswärts gerichteten Geschütze, die sinnlos in den Dschungel ballerten, weil irgendein gelangweilter Geschützführer beschlossen hatte, seine Daseinsberechtigung zu beweisen. Dann und wann kam, aus weit geringerer Entfernung, das leichtere, schärfere Bellen, wenn die Roten Khmer das Feuer erwiderten, aber auch dies waren nur geringfügige Zwischenspiele inmitten des Lärmens der Gekkos vor der größeren Stille dahinter. Im Mondlicht sah Jerry auf seine Uhr und dann auf das irre Gesicht und versuchte, den Heftigkeitsgrad von Charlie Marshalls Gier zu berechnen. Wie wenn man ein Baby füttert, dachte er. Wenn Charlie ein Nachtraucher war und am Vormittag schlief, dann würde bald etwas fällig. Schon war sein Gesicht von Nässe bedeckt. Sie strömte aus den groben Poren, aus den langgezogenen Augen, aus der schnüffelnden Triefnase. Sie richtete ihren Verlauf gewissenhaft nach den tiefen Furchen und bildete in den Höhlungen kleine Stauseen.
»Herrje, Voltaire. Ricardo ist mein Freund. Hat eine Menge Philosophie, der Junge. Den sollten Sie reden hören, Voltaire. Dem seine Ideen sollten Sie hören.«
»Ja«, stimmte Jerry zu. »Das sollte ich.« Charlie Marshall faßte Jerrys Hand.
»Voltaire, das sind ordentliche Jungens, verstanden? Mr. Tiu . . . Drake Ko. Die wollen keinem nicht wehtun. Die wollen Geschäfte machen. Sie haben was zu verkaufen, sie haben Leute, die es kaufen! Ist ein Service! Keinem wird seine Reisschale zerbrochen. Warum wollen Sie das kaputtmachen? Sie sind doch selber auch ein netter Kerl. Hab' ich gesehen. Sie haben dem Alten sein Schwein getragen, okay? Wer hat schon mal gesehen, daß ein Rundauge dem Schlitzauge sein Schwein trägt? Aber, herrje, Voltaire, wenn Sie's aus mir rauspressen, dann bringen sie Sie ganz und gar um, weil dieser Mr. Tiu, der ist ein geschäftlicher und sehr philosophischer Gentleman, verstanden? Und sie bringen mich um und sie bringen Ricardo um und sie bringen Sie um, sie bringen die ganze verdammte Menschheit um!« Die Artillerie ließ eine Salve los, und diesmal antwortete der Dschungel mit einer kleinen Sendung Raketen, vielleicht sechs, die wie katapultierte Felsbrocken über ihre Köpfe wegpfiffen. Sekunden später hörten sie die Einschläge irgendwo in der Innenstadt. Danach nichts mehr. Nicht das Heulen der Feuerwehr, nicht die Sirene einer Ambulanz. »Warum sollten sie Ricardo umbringen?« fragte Jerry. »Voltaire! Ricardo ist mein Freund! Drake Ko ist der Freund meines Vaters! Diese zwei Alten sind big brothers, kämpfen gemeinsam in irgendeinem- lausigen Krieg in Schanghai vor ungefähr zweihundertfünfzig Jahren, okay? Ich gehe zu meinem Vater. Ich sag' zu ihm: >Vater, jetzt mußt du mich einmal lieben. Du mußt aufhören, mich deinen Spinnenbastard zu nennen und du mußt deinem guten Freund Drake Ko sagen, er soll Ricardo aus seinem Malheur helfen. Du mußt sagen: >Drake Ko, dieser Ricardo und mein Charlie, die sind wie Sie und ich, Mr. Ko. Sind Brüder, so wie wir. Lernen gemeinsam fliegen in Oklahoma, legen gemeinsam die menschliche Rasse um. Und sie sind sehr gute Freunde. Ja, so ist das.< Mein Vater haßt mich sehr, okay?«