So behutsam wie möglich trug Jerry Charlie Marshall den Weg zurück in die Villa und die Treppe hinauf, wo ihn die gleichen schweigenden Gesichter dankbar begrüßten. Ich hätte mehr herausholen müssen, dachte er. Ich hätte ihm auch mehr sagen müssen: ich habe das Geschäft auf Gegenseitigkeit nicht so abgewickelt, wie sie es befohlen haben. Ich habe mich zu lange bei der Sache mit Lizzie und Sam Collins aufgehalten. Ich hab' das Pferd am Schwanz aufgezäumt, die Tour vermasselt, ich hab' alles vermurkst, genau wie Lizzie. Er versuchte, Reue darüber zu empfinden, aber es gelang ihm nicht, und am deutlichsten erinnerte er sich an Dinge, die überhaupt nicht auf der Liste gestanden hatten, und eben diese Dinge ragten in seinem Denken auf wie Monumente, während er seine Botschaft an den lieben alten George tippte.
Er tippte hinter versperrter Tür und hatte die Pistole im Gürtel stecken. Von Luke war weit und breit nichts zu sehen, daher nahm Jerry an, er sei in seinem Dauersuff in ein Bordell gegangen. Er schrieb ein langes Telegramm, das längste seiner Laufbahn: »Das alles sollten Sie erfahren, falls Sie nie mehr von mir hören.« Er berichtete über seinen Kontakt mit dem Botschaftsrat, er gab seine nächste Telefonadresse an, er schrieb Ricardos Adresse und entwarf ein Porträt Charlie Marshalls und des Dreieckshaushalts in der Flohhütte, aber immer in sehr förmlichen Wendungen, und er erwähnte kein Wort über seine jüngsten Kenntnisse der Rolle, die der unerfreuliche Sam Collins spielte. Schließlich: wenn sie es bereits wußten, wozu es ihnen dann nochmals sagen? Er ließ die Ortsnamen und die Eigennamen weg und fertigte von ihnen einen besonderen Schlüssel an, dann verwendete er eine weitere Stunde darauf, beide Botschaften so primitiv zu codieren, daß ein Decodierer keine fünf Minuten benötigt hätte, um sie zu entschlüsseln, aber ein gewöhnlicher Sterblicher, auch ein Sterblicher wie sein Gastgeber, der britische Botschaftsrat, sie nicht hätten lesen können. Und er fügte eine Mahnung an die Housekeepers hinzu, man möge bitte nachprüfen, ob Blatt and Rodney die letzte Geldsendung an Cat überwiesen hätten. Er verbrannte die Klartexte, wickelte die codierten Versionen in eine Zeitung, dann legte er sich auf die Zeitung und döste, wobei die Pistole ihn in die Rippen drückte. Um sechs rasierte er sich, packte seine Telegramme in die Paperback-Ausgabe eines Romans um, von dem er glaubte, sich trennen zu können, und machte sich zu einem Spaziergang in der Morgenstille auf. Auf dem Platz parkte deutlich sichtbar der Wagen des Botschaftsrat. Der Botschaftsrat selbst parkte ebenso deutlich sichtbar auf der Terrasse eines hübschen bistro, er trug einen Strohhut im Riviera-Stil, der an Craw erinnerte, und labte sich an heißen croissants und cafe au lait. Als er Jerrys ansichtig wurde, winkte er elegant. Jerry schlenderte zu ihm hinüber: »Guten Morgen«, sagte Jerry.
»Ah, Sie haben's! Guter Mann!« rief der Botschaftsrat und sprang auf. »Kann's schon gar nicht mehr erwarten, es zu lesen, seit es erschienen ist!«
Als er sich von dem Telegramm trennte, dachte Jerry nur an all das, was nicht darin stand und hatte das gleiche Gefühl wie am Ende eines Schulsemesters. Vielleicht kam er wieder, vielleicht auch nicht, aber in jedem Fall würden die Dinge nie wieder ganz so s- in wie vorher.
Die genauen Umstände von Jerrys Abreise aus Phnom Penh sollten sich später als wichtig erweisen, Lukes wegen. Im ersten Teil des noch verbleibenden Vormittags setzte Jerry seine fanatische Suche nach Stories fort, vielleicht als natürliches Gegengift zu seinem wachsenden Gefühl des Nacktseins. Emsig machte er sich auf die Suche nach Geschichten von Flüchtlingen und Waisenkindern und expedierte sie um Mittag über Keller, zusammen mit einer recht ordentlichen und anschaulichen Schilderung seines Besuchs in Battambang, die zwar nie im Druck, dafür aber doch in seiner Personalakte erschien. Es gab damals zwei Flüchtlingslager, beide in vollem Schwang, das eine in einem riesigen Hotel am Bassac, Sihanuks privater und unvollendeter Traum vom Paradies; das andere auf einem Rangierbahnhof beim Flugplatz, wo jeweils zwei bis drei Familien in einem Waggon zusammengepfercht waren. Er besuchte beide Lager, und es war in beiden das gleiche: junge australische Helden, die sich mit dem Unmöglichen herumschlugen, das vorhandene Wasser stank, zweimal pro Woche Reisverteilung, und die Kinder zwitscherten »Hei« und »Bye-bye« hinter ihm her, während er seinen kambodschanischen Dolmetscher überall herumschleppte und jedermann mit Fragen belästigte, sich aufspielte und nach jenem besonderen Etwas Ausschau hielt, das Stubbsis Herz rühren würde.
In einem Reisebüro buchte er unter großem Getöse einen Flug nach Bangkok, ein schwacher Versuch, seine Spuren zu verwischen. Auf dem Weg zum Flugplatz überfiel ihn ein Gefühl des dejá vu. Als ich letztesmal hier war, gingen wir Wasserskifahren, dachte er. Die europäischen Geschäftsleute halten sich Hausboote, die am Mekong ankern. Und sekundenlang sah er sich - und die Stadt - in jenen Tagen, als dem kambodschanischen Krieg noch eine gewisse grausige Unschuld anhaftete: Staragent Westerby riskiert zum erstenmal Mono-Ski, hüpft wie ein ausgelassener Junge über die braunen Wasser des Mekong, gezogen von einem lustigen Holländer in einem Rennboot, das soviel Sprit verbrauchte, daß man davon eine ganze Familie eine Woche lang hätte ernähren können. Das Gefährlichste war die zwei Fuß hohe Flutwelle, so erinnerte er sich, die den Fluß hinabrollte, sooft die Wachen auf der Brücke eine Tiefenladung losließen, damit Taucher der Roten Khmer sie nicht sprengen könnten. Aber jetzt gehörte ihnen der Fluß und der Dschungel dazu. Und morgen oder übermorgen würde ihnen auch die Stadt gehören. Auf dem Flugplatz versenkte er die Walther in einem Abfallkorb und erschmierte sich in letzter Minute den Zugang zu einem Flugzeug nach Saigon, wohin er wirklich wollte. Beim Start fragte er sich, wer wohl die längere Lebenserwartung habe: er oder die Stadt.
Luke hingegen, in dessen Tasche vermutlich noch der Schlüssel zu Jerrys Wohnung in Hongkong nistete - oder genauer zur Wohnung Deathwishs des Hunnen -, flog nach Bangkok, und wie das Leben so spielt, flog er, ohne es zu wissen, unter Jerrys Namen, denn Jerry stand auf der Passagierliste und Luke nicht, und es war sonst kein Platz mehr frei. In Bangkok wohnte er einer hastigen Redaktionskonferenz bei, die den Zweck hatte, die Mitarbeiter der Zeitschrift zwischen den verschiedenen Abschnitten der zusammenbrechenden vietnamesischen Front aufzuteilen. Luke kriegte Hue und DaNang und flog daher anderntags nach Saigon und von dort mit der Anschlußmaschine am Mittag weiter nach Norden.
Entgegen späteren Gerüchten begegneten die beiden Männer einander in Saigon nicht.
Sie begegneten einander auch nicht im Verlauf des Rückzugs der Nordfront.
Sie hatten einander - im strengen Sinn des Wortes - zum letztenmal an ihrem letzten Abend in Phnom Penh gesehen, als Jerry mit Luke Krach gemacht und Luke geschmollt hatte, und das ist eine feststehende Tatsache - ein Artikel, der später erwiesenermaßen nur schwer erhältlich war.