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Ricardo

Zu keinem anderen Zeitpunkt während dieses ganzen Falls hatte George Smiley sich so systematisch aus dem Spiel gehalten. Die Nerven der Circusleute waren bis zum Zerreißen gespannt. Die verdammte Warterei und der irre Rummel, vor denen Sarratt seit eh und je warnte, waren nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Jeder Tag, der keine entscheidende Nachricht aus Hongkong brachte, war ein weiterer Unglückstag. Jerrys langes Telegramm wurde sorgfältig analysiert und zuerst als konfus, dann als neurotisch beurteilt. Warum hatte er Marshall nicht energischer in die Zange genommen? Warum hatte er das russische Phantom nicht wieder beschworen? Er hätte Charlie über die Goldader ausquetschen sollen, er hätte bei Tiu weitermachen müssen, wo er aufhörte. Hatte er vergessen, daß seine Aufgabe in erster Linie darin bestand, den Gegner in Unruhe zu versetzen, und erst in zweiter Linie im Sammeln von Informationen? Und was seine fixe Idee mit dieser unseligen Tochter betraf - Allmächtiger!, wußte der Mann nicht, was Telegramme kosten? (Der Circus schien vergessen zu haben, daß die Vettern für die Kosten aufkamen.) Und was sollte das heißen: er habe keinen Kontakt mehr zu den britischen Botschaftsangehörigen, die anstelle des abwesenden Circus-Residenten agierten? Sicher, es hatte einige Zeit gedauert, bis das Telegramm den Weg vom Vetternflügel bis hierher geschafft hatte. Und Jerry hatte Charlie Marshall doch wirklich aufgestöbert, wie? Es war schließlich nicht Sache eines Außenagenten, London zu sagen, was es zu tun und zu lassen habe. Nach Ansicht der Housekeepers, die den Kontakt arrangiert hatten, sollte ihm postwendend eine Zigarre verpaßt werden. Der Druck, der von außen her auf den Circus ausgeübt wurde, war sogar noch stärker. Wilbrahams Mannen aus dem Kolonialamt waren nicht müßig geblieben, und der Lenkungsausschuß beschloß in einer bestürzenden Hundertachtzig-Grad-Wendung, daß der Gouverneur nun doch eingeweiht werden solle, und zwar bald. Es wurde davon gesprochen, ihn unter einem Vorwand nach London zurückzubeordern. Die Panik war ausgebrochen, weil Ko erneut im Gouverneurspalast empfangen worden war, diesmal bei einem der Talk-in-Soupers, zu denen einflußreiche Chinesen geladen wurden, damit sie zwanglos ihre Meinung äußern könnten.

Saul Enderby und sein harter Kern hingegen zogen in die entgegengesetzte Richtung: »Zum Teufel mit dem Gouverneur. Was wir fordern, ist unverzügliche und volle Partnerschaft mit den Vettern!« George solle noch heute zu Martello gehen, sagte Enderby, alle seine Karten offen auf den Tisch legen und die Vettern auffordern, das letzte Entwicklungsstadium dieses Falles selbst zu übernehmen. Er solle seine aussichtslose Jagd nach Nelson aufstecken, er solle zugeben, daß er nichts Konkretes in Händen habe, er solle es ihnen überlassen, sich den nachrichtendienstlichen Erkenntnisgewinn selber auszurechnen, und wenn sie Glück haben würden, um so besser: sollten sie doch Lorbeeren vom Capitol einheimsen, sehr zum Unbehagen ihrer Feinde. Das Ergebnis, so argumentierte Enderby, dieser ebenso großzügigen wie zeitlich zupaß kommenden Geste - gerade jetzt, inmitten des Vietnam-Fiaskos - würde eine tragfähige nachrichtendienstliche Partnerschaft auf Jahre hinaus sein, eine Ansicht, die Lacon auf seine nebulose Art zu unterstützen schien. Im Kreuzfeuer dieser beiden Lager holte Smiley sich unversehends einen zweifach üblen Ruf. Der Wilbraham-Clan brandmarkte ihn als antikolonial und pro-amerikanisch, während Enderbys Mannschaft ihn des Ultra-Konservatismus bei der Handhabung der Besonderen Beziehung bezichtigte. Weitaus peinlicher indes war Smileys eigener Eindruck, wonach Martello auf irgendwelchen Wegen von der Auseinandersetzung Wind bekommen hatte und durchaus fähig sein würde, sie auszunutzen. So sprachen zum Beispiel Molly Meakins Quellen von einer knospenden Beziehung zwischen Enderby und Martello auf privater Ebene, und nicht nur, weil beider Kinder die gleiche Schule in South Kensington besuchten. Offenbar unternahmen die Herren seit einiger Zeit an den Wochenenden regelmäßige Angelausflüge nach Schottland, wo Enderby ein Fischwasser besaß. Wie später das Scherzwort sagte: Martello stellte das Flugzeug und Enderby die Fische. Etwa um die gleiche Zeit erfuhr Smiley ferner, was alle anderen von Anfang an gewußt und ihm nicht erzählt hatten, weil sie annahmen, es sei ihm ebenfalls bekannt. Enderbys dritte und derzeitige Ehefrau war Amerikanerin und obendrein reich. Vor ihrer jetzigen Ehe gehörte sie zu den namhaften Gastgeberinnen des Washingtoner Establishment, eine Rolle, die sie nun mit einigem Erfolg in London wiederholte.

Aber der tiefere Grund für die allgemeine Erregung war letztlich der gleiche. An der Ko-Front tat sich nichts. Schlimmer noch, es herrschte quälender Mangel an operativen Erkenntnissen. Jeden Tag punkt zehn Uhr stellten Smiley und Guillam sich jetzt im Annex ein, und jeden Tag verließen sie ihn mit längeren Gesichtern. Tius Privattelefon war angezapft, desgleichen Lizzie Worthingtons Anschluß. Die Tonbänder wurden am Ort abgehört und dann zwecks detaillierter Auswertung nach London geflogen. Jerry hatte Charlie Marshall an einem Mittwoch in der Zange gehabt. Am Freitag hatte Charlie sich so weit erholt, daß er Tiu aus Bangkok anrufen und ihm sein Herz ausschütten konnte. Doch Tiu hatte kaum dreißig Sekunden lang zugehört und ihn dann mit der»Anweisung unterbrochen, er solle »sich sofort mit Harry in Verbindung setzen«, womit niemand etwas anzufangen wußte: keiner hatte irgendwo einen Harry. Am Samstag wurde es dramatisch, weil der Lauscher an Kos Privatanschluß meldete, Ko habe seine regelmäßige Sonntagmorgen-Golfrunde mit Mr. Arpego abgesagt. Ko schützte eine dringende geschäftliche Verabredung vor. Das war's! Das war der Durchbruch! Am nächsten Tag setzten die Vettern in Hongkong mit Smileys Einverständnis einen Lieferwagen, zwei Autos und eine Honda auf Kos Rolls-Royce an, sobald er in die Stadt einfuhr. Welche geheimnisvolle Besorgung mochte für Ko so wichtig sein, daß er an einem Sonntagmorgen um halb sechs losfuhr und seine wöchentliche Golfpartie abblies? Antwort: ein Besuch bei seinem Wahrsager, einem verehrungswürdigen alten Swatonesen, der in einem verwahrlosten Tempel in einer Seitenstraße der Hollywood Road praktizierte. Ko verbrachte dort über eine Stunde, ehe er wieder heimfuhr, und obwohl ein strebsamer Knabe im Lieferwagen der Vettern während der ganzen Dauer der Sitzung ein verstecktes Richtmikrophon auf das Fenster des Tempels einstellte, konnte er, abgesehen vom Verkehrslärm, nur das Gegacker aus dem Hühnerstall des Alten auffangen. Zu Hause im Circus wurde di Salis konsultiert. Wozu in aller Welt ging jemand um sechs Uhr früh zum Wahrsager, und noch dazu ein Millionär? di Salis amüsierte sich so königlich über die allgemeine Ratlosigkeit, daß er entzückt an seinem Haarschopf riß. Ein Mann vom Range Kos würde darauf bestehen, bei seinem Wahrsager der erste Kunde des Tages zu sein, sagte er, solange der große Mann noch frischen Sinnes die Verkündigungen der Geister aufnehmen könnte.

Dann geschah zwei Wochen lang nichts. Gar nichts. Die Post- und Telefonüberwachung spuckte Stöße unverdaubaren Rohmaterials aus, das auch nach der Aufbereitung keinen einzigen Hinweis lieferte.

Inzwischen rückte der Ablauf der von der Rauschgiftfahndung gesetzten Frist unaufhaltsam näher und damit der Tag, an dem Ko Freiwild werden sollte für jeden, der ihm als Erster etwas anhängen könnte.

Aber Smiley behielt die Nerven. Er wies alle Anschuldigungen zurück, die gegen sein eigenes und gegen Jerrys Verhalten vorgebracht wurden. Der Baum sei geschüttelt, erklärte er immer wieder, Ko sei aufgescheucht worden, und die Zeit wende erweisen, daß man richtig gehandelt habe. Er wollte sich um keinen Preis zu einem Fußfall vor Martello drängen lassen und hielt sich entschlossen an die Bedingungen der Absprache, die er in seinem Brief, dessen Kopie jetzt bei Lacon lagerte, umrissen hatte. Auch ließ er sich, was ihm vertraglich zustand, weder von Gott noch von der Kraft der Logik oder von Kos möglichen Reaktionen dazu zwingen, irgendwelche operativen Details zu diskutieren, sofern nicht Protokollfragen oder koloniale Belange davon berührt wurden. Er wußte genau, daß hier die geringste Nachgiebigkeit nur den Zweiflern neue Munition für seinen Abschuß geliefert hätte.