Fünf Wochen lang hielt er das durch, und am sechsunddreißigsten Tag spielten Gott oder die Kraft der Logik oder Kos menschliche Reaktion George Smiley einen wertvollen, wenn auch geheimnisvollen Trost zu. Drake Ko ging unter die Seefahrer. Begleitet von Tiu und einem unbekannten Chinesen, der später als Erster Kapitän von Kos Dschunkenflotte identifiziert wurde, verbrachte er den größten Teil dreier Tage mit Rundreisen zu den Inseln vor Hongkong, von denen er allabendlich bei Einbruch der Dunkelheit zurückkehrte. Wohin sie genau gingen, war noch nicht festzustellen. Martello schlug eine Reihe von Hubschrauber-Überflügen vor, um ihre Spur zu verfolgen, aber Smiley lehnte den Vorschlag rundweg ab. Die statische Observierung vom Kai aus bestätigte, daß die Reisegesellschaft offenbar täglich auf einer anderen Route ausfuhr und wieder heimkehrte, das war auch alles. Und am letzten Tag, dem vierten, kam das Schiff überhaupt nicht zurück. Panik. Wo war es abgeblieben? Martellos Herren und Meister in Langley, Virginia, gerieten vollends aus dem Häuschen und folgerten, daß Ko und die »Admiral Nelson« mit voller Absicht in chinesische Hoheitsgewässer geraten seien. Oder sogar, daß man sie entführt habe. Ko würde nie mehr gesehen werden, und Enderby, der seine eigenen Schiffe davonschwimmen sah, rief persönlich bei Smiley an und sägte, es sei »verdammt nochmal Ihre Schuld, wenn Ko in Peking auftaucht und ein großes Geschrei von wegen Belästigung durch den Geheimdienst erhebt«. Einen qualvollen Tag hindurch überlegte sogar Smiley selber insgeheim, ob Ko nicht wider alle Vernunft tatsächlich zu seinem Bruder gereist sei.
Dann, am nächsten Morgen, lief die Yacht ruhig im Haupthafen ein, als kehre sie gerade von einer Regatta zurück, und ein vergnügter Ko ging hinter seiner schönen Liese mit dem langen, sonnenfunkelnden Goldhaar - das reinste Werbeplakat - über die Laufplanke an Land.
Diese Nachricht gab den Anstoß, daß Smiley nach sehr langem Nachdenken und neuerlichem eingehendem Studium von Kos Akte - ganz zu schweigen von spannungsreichen Besprechungen mit Connie und di Salis - zwei Entscheidungen gleichzeitig traf oder, wie die Glücksspieler sagen - seine letzten beiden Karten auszuspielen beschloß.
Erstens: Jerry sollte die »letzte Stufe« in Angriff nehmen, womit er Smiley Ricardo meinte. Dieser Schritt würde, so hoffte er, den Druck auf Ko verstärken und Ko nötigenfalls den letzten Beweis dafür liefern, daß er jetzt handeln müsse. Zweitens: Sam Collins sollte »aktiv werden«. Die zweite Entscheidung wurde in einer Beratung mit Connie Sachs allein gefällt. Sie findet keine Erwähnung in Jerrys Personalakte, nur in einem geheimen Anhang, der später mit gewissen Streichungen zu weiterer Prüfung freigegeben wurde. Die verheerende Wirkung, die alle diese Aufschübe und Verzögerungen auf Jerry ausübten, hätte auch der größte Geheimdienstchef der Welt nicht in seine Berechnungen einbeziehen können.
Diese Wirkung zu kennen, war eine Sache - und Smiley kannte sie zweifellos und unternahm sogar einiges, um ihr vorzubeugen. Sich von dieser Wirkung bestimmen zu lassen, ihr den gleichen Stellenwert einzuräumen wie den hochpolitischen Faktoren, mit denen er täglich bombardiert wurde, wäre eine ganz andere und völlig unverantwortlich gewesen. Ein General muß einfach Prioritäten setzen.
Saigon war entschieden der letzte Ort, an dem Jerry seinen Wartestand hätte verbringen dürfen. Als die Verzögerungen sich häuften, sprach man im Circus wiederholt davon, ihn in eine bekömmlichere Stadt zu schicken, zum Beispiel nach Singapur oder Kuala Lumpur, aber Gründe der Zweckdienlichkeit und der Tarnung gaben stets den Ausschlag dafür, daß er bleiben mußte, wo er war: und außerdem, schon morgen konnte sich alles ändern. Hinzu kam das Problem seiner persönlichen Sicherheit. Hongkong kam nicht in Betracht, und sowohl in Singapur wie in Bangkok hatte Ko sicherlich beträchtlichen Einfluß. Und nochmals die Tarnung: was war natürlicher, als daß ein Journalist sich in Saigon aufhielt, nun, da der Zusammenbruch unmittelbar bevorstand? Trotz allem lebte Jerry nur ein halbes Leben, und er lebte in einer halben Stadt. Rund vierzig Jahre lang war der Krieg Saigons Schlüsselindustrie gewesen, doch der amerikanische Rückzug von dreiundsiebzig hatte einen Konjunktureinbruch ausgelöst, von dem die Stadt sich bis zuletzt nie richtig erholte, so, daß sogar dieser lang erwartete Schlußakt mit seinem Millionenaufgebot von Darstellern vor fast leerem Haus spielte. Sogar wenn Jerry seine obligatorischen Fahrten in die unmittelbare Kampfzone unternahm, hatte er das Gefühl, einem verregneten Kricketmatch beizuwohnen, bei dem beide Parteien nur den Wunsch hatten, möglichst bald in die Umkleidekabinen zurückzukehren. Der Circus verbot ihm, Saigon zu verlassen, mit der Begründung, er könne jeden Augenblick irgendwo anders benötigt werden, aber die wörtliche Durchführung dieses Befehls hätte ihn lächerlich gemacht, also ignorierte er ihn. Xuan Loc war eine langweilige französische Kautschukstadt, fünfzig Meilen entfernt, an der derzeitigen Verteidigungslinie der Stadt. Denn dieser Krieg unterschied sich dramatisch vom Krieg in Phnom Penh, er war technischer und trug ein europäisches Gepräge. Während die Roten Khmer keine Panzerwaffe besaßen, hatten die Nordvietnamesen russische Tanks und 130er Artilleriegeschütze, die sie nach klassischem russischem Muster dicht an dicht auffahren ließen, als setzten sie unter Marschall Schukow zum Sturm auf Berlin an, und nichts rührte sich, ehe nicht die letzte Kanone geladen und aufs Ziel gerichtet war. Er fand die Stadt halb verlassen vor, die katholische Kirche war leer bis auf einen französischen Geistlichen.
»C'est termine«, erklärte der Priester ihm schlicht. Die Südvietnamesen würden tun, was sie immer taten, sagte er. Sie würden den Vormarsch stoppen, dann kehrt machen und davonlaufen. Sie tranken zusammen Wein und starrten auf den leeren Platz hinaus.
Jerry reichte seine Reportage ein, die besagte, daß dieses Fiasko das letzte sei, und Stubbsi lehnte sie prompt ab mit dem lakonischen Kommentar: »Porträts, nicht Prophezeiungen. Stubbs.«
Auf den Stufen des Hotels Caravelle in Saigon boten ihm bettelnde Kinder unnütze Blumengebinde zum Kauf an. Jerry gab ihnen Geld und nahm die Blumen, um ihr Gesicht zu wahren, dann warf er sie in seinem Zimmer in den Papierkorb. Als er unten in der Halle saß, klopften sie ans Fenster, an dem der Regen herabströmte, und verkauften ihm Stars and Stripes. In den leeren Lokalen, in denen er trank, scharten sich die Mädchen verzweifelt um ihn, als wäre er ihre letzte Chance vor dem Ende. Nur die Polizisten waren in ihrem Element. Sie standen mit weißen Helmen und frischgewaschenen weißen Handschuhen an jeder Ecke, als warteten sie bereits darauf, den anrollenden Fahrzeugstrom der Sieger zu dirigieren. In weißen Jeeps fuhren sie wie regierende Fürsten an den Flüchtlingen vorbei, die in ihren Vogelbauern auf dem Gehsteig hockten. Er kehrte in sein Hotelzimmer zurück, und bald darauf rief Hercule an, Jerrys Lieblings-Vietnamese, dem er aus Leibeskräften aus dem Weg gegangen war. Hercule, wie er selber sich nannte, war gegen das Establishment und gegen Thieu und verdiente nicht schlecht damit, daß er britische Journalisten mit Informationen über den Vietkong versorgte, mit der fragwürdigen Begründung, daß die Briten nicht in den Krieg verwickelt seien. »Die Briten sind meine Freunde!« flehte er ins Telefon. »Bringen Sie mich raus! Ich brauche Papiere, ich brauche Geld!« Jerry sagte: »Probieren Sie's bei den Amis«, und legte auf.